Volksschulen um 1900 (IV)

Strenge Gerechtigkeit macht den Lehrer zu einem Meister der Zucht

Zucht und Ordnung – Karikatur von Th. Th. Heine aus dem “Simplizissimus” 1910/11

Volksschulen waren ein Bollwerk für Religion, Sittlichkeit und Zucht. In mehreren regionalen Lehrer-Konferenzen der Volksschulen, die in Dorsten um die Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts stattfanden, behandelten die Lehrer Themen wie Prügelstrafe und ihre Anwendung, oder Schulzucht und Sittlichkeit, die Trunksucht in den arbeitenden Klassen sowie das Glück der maßvollen Zurückhaltung. Es wurde aber auch der Kampf aufgenommen gegen die gottlosen Umstürzler und vaterlandslosen Gesellen, denen die Volksschule eine Barriere bilden müsse. Lehrer aus Dorsten nahmen an diesen Konferenzen teil. Die Chronik der Antoniusschule in Holsterhausen liefert Bericht über das, was damals beschlossen wurde und das bei der Lektüre heute sicherlich Stirnrunzeln und Kopfschütteln verursacht. Wir haben den Teil der Chronik hier in den Artikeln Volksschulen I bis VII wiedergegeben und die damalige Schreibweise beibehalten.

Wie die Mühle das Wasser, so braucht der Schüler die Zucht

Am Weihnachtstag des gleichen Jahres, am 24. September 1897, trafen sich die Lehrer erneut in Dorsten und hörten sich den Vortrag über „Schulzucht“ des Lehrers Fleitmann aus Dorsten an, der in der Schulchronik der Antoniusschule als „frei gehalten, inhaltlich und formell meisterhaft“ eingeschätzt wurde. Dem Vortrag entnahmen die Lehrer für sich ebenfalls „Leitsätze“.

  1. Unter Schulzucht, die der Schule so notwendig ist, wie der Mühle das Wasser, dem Vogel die Flügel, ohne welche alle Tätigkeit in der Schule die rechte Weihe, der rechte Segen und Erfolg fehlen, verstehen wir alle die Veranstaltungen, Einrichtungen und Tätigkeiten der Schule, die darauf abzielen, den Willen selbständig zu machen und auf den rechten Weg zu lenken, sie bezieht sich sowohl auf das äußere Verhalten des Schülers als auch auf sein sittliches Verhalten.
  2. Die Schulzucht ist in erster Linie abhängig von der Persönlichkeit des Lehrers, der voll Liebe, Begeisterung und Hingebung für seinen Beruf, seinen Schülern in allen Tugenden, zu denen (er) sie erziehen will, allzeit und überall Muster und Vorbild ist, eingedenk der Wahrheit, dass die Schüler zuerst Tun, was sie vom Lehrer sehen, nicht was sie von ihnen hören.
  3. Die reine uneigennützige, aufopfernde, treue, ermahnende, geduldige, freundliche, ernste und feste Liebe des Lehrers zu seinen Schülern macht deren Herzen für Zucht und Lehre empfänglich, ruft ihnen den Vorsatz wach, sich die Zufriedenheit des Lehrers zu erringen und seine Liebe sich zu wahren, setzt ihn auch in das beste Verhältnis zu den Eltern der Kinder, ohne deren Mitarbeit und Unterstützung weder zu erzielen noch zu erhalten ist.
  4. Der Lehrer, der gute Zucht übt, ist wachsam über sich selbst, über seinen Unterricht nach Inhalt und Form, über die Kinder (ihren Umgang, ihre Lektüre, ihre Bilder), wobei er recht die Macht seines Auges zeigen kann, das ermuntert, warnt, straft, das vorbeugend und anregend wirkt, hütet sich aber, dass die Übermachung nicht kleinlich wird, nicht unverdientes Mißtrauen zeigt und nicht die Freiheit unnötig beschränkt.
  5. Die Konsequenz, die stets nach derselben leitenden Grundsätze handelt, also nicht widerruft, was einmal befohlen, nicht unerfüllt lässt, was einmal angedroht, deshalb auch nicht mit halben Leistungen zufrieden ist, die Sparsamkeit in Gebieten und Verbieten, Ruhe und Leidenschaftslosigkeit, offene Augen und Ohren vorausgesetzt, die dabei stets heiter und freundlich ist, aber nicht viel Worte macht, die gepaart ist mit strenger Gerechtigkeit gegen alle Schüler, machen den Lehrer zu einem Meister der Zucht.
  6. Der Unterricht erhalte die Schüler in geistiger Tätigkeit, gehöriger Spannung und Teilnahme (Geisteszucht), errege die Aufmerksamkeit und den Fleiß, ziehe den Schüler zu richtiger Rede (Redezucht) und treibt ihn an zu ernster Arbeit.
  7. In der Erziehung ist Aufgabe der Schulzucht, neben Gottesfurcht, der Tugenden Mutter, die Tugenden zu pflegen, in denen sich ein gesundes Jugendleben darstellt, als Gehorsam, Selbstbeherrschung, Ehrliebe, liebende Rücksicht auf andere, Bescheidenheit und Höflichkeit.
  8. Als sichere Kennzeichen einer guten Schulzucht gelten die Ordnung und Reinlichkeit im Schulzimmer und auf dem Spielplatze, den Aborten, die anständige Körperhaltung der Kinder, das würdevolle, nicht wüste Benehmen auf dem Spielplatze, die Ruhe vor dem Unterrichte und während derselben, die gespannte Aufmerksamkeit und die rege Mitarbeit der Schüler, das muntere, doch bescheidene Aufzeigen ohne Klatschen, Rufen und Aufspringen, die Ordnung beim Weggehen, das gesittete höfliche Benehmen auf der Straße, die schöne, deutliche Handschrift, die Reinlichkeit in den Aufsatz-, Schreib- und Zeichenheften, die Art und Weise der Anfertigung der häuslichen Arbeiten.
  9. Um an mehrklassigen Schulen Übereinstimmung in Lehre und Zucht zu erzielen, empfehlen sich Konferenzen zwischen den Lehrern und Lehrerinnen, vielleicht im Beisein der Ort- und Kreisschulinspektoren.

Dazugehördende Texte:
Volksschulen um 1900 (I) – Regionalkonferenz
Volksschulen (II) – Körperliche Züchtigung
Volksschulen (III) – Vor dem Unterrichte Herz und Blick zu Gott erheben
Volksschulen (V) – Damm gegen gottlose Umstürzler
Volksschulen (VI) – Das Materielle dient der Berufsfreudigkeit des Lehrers
Volksschulen (VII) – Bollwerk gegen Trunksucht
Volksschulen (VIII) – Resümee der Konferenzen

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