Früherer Petrinum-Schüler beschreibt in seinem neuen Roman seine Schulzeit
Von Wolf Stegemann. – Geboren in Hünxe, zur Schule gegangen in Schermbeck, Dorsten und Gladbeck; studierter Pianist, Lektor, Schriftsteller, Verleger, Herausgeber und Preisträger in Leipzig. – Was haben Hünxe, Schermbeck, Dorsten, Köln, Berlin und Leipzig gemeinsam? Mit den ersten drei Orten könnte man schon Zusammenhänge finden, doch mit den anderen drei Städten? Da findet man den Lektor, Lyriker, Romanschriftsteller, Herausgeber und Pianisten Andreas Heidtmann, dessen Leben 1961 in Hünxe begann und der in Leipzig von der literarischen und über Leipzig hinausreichenden Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Dazwischen liegen 59 Jahre, die er in Schermbeck, Dorsten, Köln und Berlin verbrachte. Sein neuestes Projekt ist ein im Steidl Verlag herausgegebener Roman, der sich unter dem Titel „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“ verklausuliert mit seinem Leben befasst. Mit seinem Leben als Schüler der Grundschule in Schermbeck, das er in seinem Roman Lippfeld nennt, und als Gymnasiast des Petrinum in Dorsten. Er beschreibt ausführlich und romanhaft seine gedanklichen und tatsächlichen Auseinandersetzungen mit seinen Lehrern. Andreas Heidtmann: „Etwa 20 Prozent der Lehrernamen sind echt, die anderen sind Aliasnamen, um sie nicht bloßzustellen.“ Denn Heidtmanns romanhafte Reflexionen sind durchaus kritisch und daher auch ehrlich und nicht geschönt. Er beschreibt die damals noch vorherrschende „geballte Macht“ der Lehrer. Das macht seinen Roman auch zu einem Dokument und sicherlich findet sich der eine oder andere aus Schermbeck oder Dorsten in den 346 Seiten wieder.
Heidtmann setzt sich auch mit seinen früheren Lehrern auseinander
Wer über den Kindsmissbrauch des am Dorstener Gymnasium Petrinum tätigen Franziskanerpaters Heribert Griesenbrock (1914-2007) Bescheid weiß, den muten die Passagen zumindest sonderlich an, in denen der Autor über die erotischen Bemerkungen des Paters im Religionsunterricht schreibt. Wohlgemerkt: Bis nach der Herausgabe des Buches Ende April 2020 wusste der Autor nichts über den von Pater Heribert Griesenbrock damals tatsächlich verübten Missbrauch mit ihm anvertrauten Jugendlichen im Internat des Franziskanerklosters. In Heidtmanns Buch ist zu lesen:
„Wenn Pater Heribert zu philosophischen Exkursen ansetzte, was häufiger geschah, sank der Wert der Begeisterungsskala unter null…“ Und dann ging es um intime Körperpflege. „Keiner von uns hätte gedacht, dass so ein heikles Thema in den Religionsunterricht gehörte oder zumindest von Pater Heribert dafür reklamiert würde.“ Pater Heribert erklärte, man solle das Genital nicht von der Körperreinigung ausschließen. „Einige waren verwirrt – weniger wegen des Ratschlags zur Körperpflege als wegen der Dürftigkeit der Information. Andere meinten, Pater Heribert habe freundlich umschreiben wollen, dass es erlaubt sei, unter der Dusche zu masturbieren…“
Erst 2018, über zehn 10 Jahre nach dem Tod von Pater Heribert Griesenbrock, wurde bekannt, dass dieser und andere Franziskanermönche Schutzbefohlene Internatsschüler im Konvikt St. Peter in Dorsten sexuell missbraucht haben. Die Internatsschüler waren immer zu zweit in einem eigenen Zimmer untergebracht; in diesem Zimmer gab es nur ein Waschbecken. Auf dem Flur des Konvikts St. Peter gab es für alle Bewohner dieser Etage eine Toilettenanlage mit mehreren Plätzen und ein Badezimmer, das mit einer Badewanne ausgestattet war. Dieses Badezimmer war von innen nicht abschließbar! Wenn dann einer der jugendlichen Schüler im Alter von 10 bis 12 Jahren die Badewanne für eine gründliche Körperreinigung nutzte, erschien dann völlig unangemeldet ein Franziskaner im Bad und bot den völlig überraschten Jungen an, sie über eine gründliche Körperreinigung aufzuklären. Dazu gehörte dann auch die gründliche Reinigung des Genitales, bei der ungefragt auch Hand angelegt wurde. Es sei noch einmal ausdrücklich bekräftigt, dass diese, mittlerweile auch von der Deutschen Franziskanerprovinz offiziell anerkannten, massiven sexuellen Missbräuche durch den Franziskanerpater Heribert Griesenbrock in Heidtmanns Roman „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“ nur deshalb nicht vorkommen, weil der Autor Andreas Heidtmann bis Anfang 2021 überhaupt keine Kenntnis von diesen massiven sexuellen Missbrauchsfällen hatte. Das Nichterwähnen ist daher kein vorsätzliches Verschweigen, Vom Autor ist zu hören, dass eine Überarbeitung der diesbezüglichen Passagen seines o. g. Romans in einem weiteren Buch erfolgen wird.
Mit dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen ausgezeichnet
Andreas Heidtmanns Familie, die bereits 1963 von Hünxe nach Altschermbeck zog, war stets nach Dorsten orientiert, da Altschermbeck damals noch zum Amt Hervest-Dorsten gehörte. Daher besuchte der Schüler Andreas nach der Grundschule in Schermbeck das Gymnasium Petrinum in Dorsten. Er erinnert sich gut an seine Mitschüler Lutz Käppel, Rüdiger Tüshaus, Marius Üffing und Dirk Westerrat, die auch in seinem Roman erwähnt werden, wie viele seiner Lehrer. Zwei Jahre vor dem Abitur wechselte er an eine Schule nach Gladbeck, wo er das Abitur machte. Danach absolvierte Andreas Heidtmann ein Klavierstudium unter anderem bei Pavel Giliklov in Köln sowie ein Studium der Germanistik und Philosophie in Berlin. Vom Berliner Kultursenat erhielt Andreas Heidtmann in den Jahren 1992, 1993 und 2000 ein Literaturstipendium. Nach dem Studium war er in Leipzig zunächst als Lektor und Autor tätig, wofür er von der Stadt Leipzig, in die er umgezogen war, 2002 ebenfalls ein Literaturstipendium bekam. 2005 gründete Andreas Heidtmann in Leipzig den „poetenladen“ für deutschsprachige Gegenwartsliteratur und 2006 die bis heute halbjährlich erscheinende Literaturzeitschrift „poet“ und richtete das Literaturportal „poetenladen“ ein. Dafür wurde er 2010 mit dem „Hermann-Hesse-Preis“ ausgezeichnet. Dazu Michael Braun in der Laudatio (Auszüge):
„Zeitschriftenmacher wie Andreas Heidtmann aus Leipzig – das sind die letzten Abenteurer des Geistes, unterwegs nicht nur auf allen Kontinenten der Weltliteratur, sondern auch in den Winkeln der Provinz, um dort die unentdeckten Talente der Gegenwartsdichtung aufzuspüren… Er hat mit dem Poetenladen im Internet eine gut besuchte Plattform für Gegenwartsliteratur geschaffen, die einen im Getümmel der Newcomer, Novizen und ambitionierten Talente einen verlässlichen Überblick liefert. Und er hat 2007 mit dem Literaturmagazin poet eine Zeitschrift gegründet, die auf jeweils rund 200 Seiten den allerjüngsten Metamorphosen der vielversprechenden Jungen Literatur auf sehr inspirierte Weise nachspürt…“
2011 bekam Andrea Heidtmann den Förderpreis zum „Lessing-Preis des Freistaates Sachsen“. Dazu Martin Hielscher: „Andreas Heidtmann hat das vielleicht beste deutschsprachige Literaturportal im Internet gestaltet.“ Und 2013 erhielt er den „Anerkennungspreis zum Initiativpreis für Kunst und Kultur“. Der „Lessing-Preis des Freistaates Sachsen“ (1993 von der Regierung gestiftet) wird alle zwei Jahre verliehen und würdigt im Geiste Lessings herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Literatur und des Theaters. Die Verleihung findet auf Staatsebene statt. Die Auszeichnung knüpft an die Tradition des „Lessingpreises der DDR“ an, der von 1955 bis 1989 vom DDR-Kulturministerium vergeben wurde.
Muffige Keller, gepflegte Vorgärten, exzessive Musik mit Freunden
Andreas Heidtmann, Gründer und Betreiber des Verlags „poetenladen“, ist seit 2015 neuer Vorsitzender des Sächsischen Literaturrats, dem u. a. noch Janina Fleischer, Literaturredakteurin der Leipziger Volkszeitung, sowie Jörg Schieke, Redakteur bei MDR-Figaro angehören. Der Literaturrat sieht sich der Förderung und Pflege der Literatur und des literarischen Lebens in Sachsen verpflichtet. Trotz der vielen Zeit, die sein Online-Portal und seine Literaturzeitschrift kosten, schreibt Andreas Heidtmann selbst auch viel, auch Geschichten, die in Schulbüchern veröffentlicht werden. 2005 erschien im Athena-Verlag Oberhausen sein Buch „Storys aus dem Baguette. Einundzwanzig Geschichten“ Bild: Titelseite), 2007 „Die Kurzgeschichte auf dem Weg ins 21. Jahrhundert: Ein Fach Deutsch“ im Schulbuchverlag Schöningh, Paderborn. Wie eingangs bereits beschrieben, erschien Anfang 2020 im Steidl Verlag „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“. Dieser Roman, von dem einige Betrachtungen und Erlebnisse des Autors auch in Schermbeck und Dorsten stattfinden, ist ein allein schon wegen dieser Inhalte ein lesenswertes Buch: Unglaubliches geschieht im Frühjahr 1974: Die schwedische Popgruppe ABBA gewinnt den Eurovision Song Contest und wird über Nacht weltberühmt. Ben Schneider und seine Freunde wittern Verrat: Ihre musikalischen Helden heißen Hendrix, Lennon und Dylan, in deren Songs geht es um Existenzielles, um Revolte, Drogen und Utopien. Sie leiden darunter, dass ihnen fortan aus Hitparaden und Jugendclubs Waterloo entgegenschallt. Gegen die dörfliche Tristesse in Schermbeck alias Lippfeld hilft Ben manchmal nur das Spiel auf einem alten Klavier, das neben dem Grundig-Musikschrank wie ein Fremdkörper wirkt. Ein elektrisierendes Alter in einer dörflich entschleunigten Zeit, die Ben und seine Freunde jedoch nicht vor den Tragödien des Lebens bewahrt. Denn wo steht geschrieben, wie man ein Mädchen das erste Mal küsst, oder wie man verkraften soll, dass ein Klassenkamerad stirbt? Es beginnt ein Sommer der stillen Revolte und der ersten Liebe. Alles könnte so leicht sein, aber das ist es nicht – denn das Herz funktioniert anders als der Verstand und das Unbehagen ist allgegenwärtig, schielt aus muffigen Partykellern und gepflegten Vorgärten und lässt sich nur gemeinsam ertragen – mit Freunden, exzessiver Musik und der Hoffnung auf rauschhafte Momente („Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“, Leineneinband ISBN 978-3-95829-714-2, 1. Auflage 03/2020, 22 Euro).
Er erhielt im April 2020 erste Manuskripte mit Corona-Texten
Als Literat, Herausgeber und Lektor muss Andreas Heidtmann natürlich viel lesen. Die BILD-Zeitung Leipzig fragte ihn, wo er denn lese: „Überall, wo es geht, wenn ich gerade Zeit zum Lesen habe. Im Zug, auf dem Balkon, bei Verwandten, die mich langweilen, am Schreibtisch.“ Und dann erinnert er sich an das, was er in seiner Kindheit und Jugend in Schermbeck und Dorsten gelesen hat: „The Adventures of Tom Sawyer“, aber auch Wilhelm Busch, Karl May, griechische Sagen, Rübezahl, Erich Kästner.“ Was heißt Bücher verlegen in der Coronakrise. Dazu der Verleger Heidtmann: „Die Krise ist allgegenwärtig. Alle sind betroffen und viele zu besorgt, um Muße zu finden. Dennoch wird natürlich auch gelesen. Zurückgeblickt und vorausgeschaut. Nach der Krise wird vieles anders sein. Auch in der Literatur. Uns erreichen bereits erste Manuskripte mit Corona-Texten, was – literarisch gesehen – verfrüht scheint, aber auch die Wucht der Krise verdeutlicht, die vor den Schreibtischen nicht Halt macht.“ Andreas Heidtmanns „poetenladen“-Verlag setzt trotz der Widrigkeiten seine Produktion fort und vertreibt die Bücher im Online-Shop seines Verlags. Und wenn er Zeit hat, dann schreibt er nicht nur, dann denkt er auch zurück an seine Kindheit und Jugend in Schermbeck und Dorsten, was in seinem jetzt erschienen Debüt-Roman so geist- und anekdotenreich geschildert ist.
Im August 2020 kam Andreas Heidtmann nach Dorsten und las vor rund 100 Zuhörern im Amphitheater am Maria Lindenhof Platz aus seinem Debütroman „Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde“. Zwischen den Leseblöcken beantwortete Heidtmann die Fragen von DJ und Radiomoderator Mike Litt, der in Dorsten aufgewachsen ist. Die Lesung war gespickt mit musikalischen Einspielern.
Leipziger Poetenladen erhielt den Kurt-Wolff-Förderpreis 2022
Heidtmanns Leipziger Verlag Poetenladen erhielt 2022 den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung. Zur Begründung hieß es, der Verlag zeige seit fast 15 Jahren, wie sich die Druckmedien im Zeitalter der Digitalisierung verjüngen ließen. Der Förderpreis ist mit 15.000 Euro dotiert. Der Leipziger Poetenladen war zuerst ein Webportal und hat sich 2005 zum Verlag entwickelt. Verlagsgründer Andreas Heidtmann im „MDR Kultur“: „Wenn ich Literatur und junge Autorinnen und Autoren fördern will, dann gehört auch das Buch dazu. Und das war für mich der Schritt, die ganzen digitalen Dinge, die ich im Internet entwickelt hatte, hineinzunehmen in den Print und daraus dann einen Verlag zu entwickeln.“ Der Pres wurde im Rahmen der „Leipziger Buchmesse“ im März 2022 verliehen.
Die Kurt Wolff-Stiftung versteht sich als Interessensvertretung unabhängiger deutscher Verlage, ihr Sitz befindet sich seit März 2002 im „Haus des Buches“ in Leipzig. Der Name der Stiftung erinnert an den bedeutenden Verleger des deutschen Expressionismus, der von 1887 bis 1963 lebte und mit dem Kurt Wolff Verlag unter anderem in Leipzig wirkte. Die Arbeit der Stiftung wird mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, sowie aus Spenden finanziert. Dem Freundeskreis der Stiftung gehören derzeit mehr als 130 Verlage an.
Siehe auch: Missbrauch Franziskaner-Internat (Essay)
Siehe auch: Gymnasium Petrinum I
Siehe auch: Gymnasium Petrinum II
Siehe auch: Altschermbeck
Siehe auch: Mike Litt