Kette

Kunstwerk Antonio Filippins dokumentierte die Welt der Unterdrückung

Wohlstand und Elend – eine der Skulpturen an der „Kette“

Von Wolf Stegemann – Einer der rührigsten, bekanntesten, erfolg- und ideenreichsten Künstler in Dorsten war Antonio Filippin, der 1996 mit Sack und Pack sowie einigen seiner Kunstskulpturen auf die Seychellen auswanderte. Da war er  55 Jahre alt. Viele Dorstener der 1960er- bis Mitte der 1990er-Jahre und noch mehr Schülerinnen und Schüler sowie Lehrer des St. Ursula-Gymnasiums kannten und kennen ihn, denn am Marktplatz, gleich neben dem Alten Rathaus Ecke Wiesenstraße, hatte Antonio Filippin seine Eisdiele, zugleich sein Künstlerdomizil, denn im Keller machte er nicht nur Eis, sondern schnitzte und bildhauerte auch. Seine Eisdiele war daher ein „Künstlertreff“ für Maler und Literaten. Antonio Filippin wirkte aber nicht nur in Dorsten, sondern als Aktionskünstler im gesamten Ruhrgebiet. Dass er auch darüber hinaus gefragt war, war nicht zuletzt seinem angesehenen  Künstlerprojekt „Die Kette“ zu verdanken, die er ab 1984 entwickelte und das aufwändige Projekt in den folgenden Jahren in Ruhrgebietsstädten bei besonderen Anlässen zeigte – auch bis ins Siegerland –  und dort stets für Gesprächsstoff sorgte.

Die hundert Meter lange Kette wog 800 Kilogramm

Antonio Filippin beim Aufbau

„Die Kette“ bestand aus 20 Holzskulpturen, die mit einer schweren Kette verbunden waren. Die Skulpturen stellten die „Welt als Kette der Unterdrückung“ dar, wie die „Nordwest-Zeitung“ in Oldenburg (Oldb.) 1987 titelte. Den Hass, die Macht, den Wohlstand und das Elend, die Folter, das Heucheln, die Freiheit und die Einsamkeit, die Verzweiflung,  den Krieg, die Gerechtigkeit, die Folter, Freiheit und Einsamkeit. Die Idee, eine solche Skulpturen-Kette zu schaffen, kam Antonio Filippin Anfang der 1980er-Jahre. Und wie man ihn nun mal kannte und kennt, versuchte er, das Thema sofort umzusetzen. Ab 1984 begann er, aus Holzstämmen die Figuren zu schlagen, sammelte Details dazu, was oft schwierig genug war, denn der Eiskonditor musste nicht nur Arbeit und Zeit investieren, sondern auch finanzielle Mittel. Die bekam er zum Teil von Firmen, die das Projekt unterstützten. Das Dattelner Kettenwerk „Becker Prünte“ stellte die dicken Ketten in einer Gesamtlänge von 100 Metern zur Verfügung, die ein Gewicht von 800 Kilo hatten.

„Liebe“ wurde als kleinste Figur an den Anfang der „Kette“ gesetzt

Betrachtete man die aus Holz gehauenen und geschnitzten Figuren, könnte man wegen der meist brutalen Darstellung erschrecken, auch wenn sie offenkundige tägliche „Gewalt“ demonstrierten. Das Thema war vor 30 Jahren genauso aktuell wie heute. Ein überdimensionaler Fuß symbolisierte die „Unterdrückung“, der alles Leben niederwalzt. „Macht“ stellte sich in Form einer riesigen, Menschen krallenden Hand dar. Die „Einsamkeit“ war in einer alten, gebeugten Frau personifiziert, obwohl der Künstler dazu meinte, dass junge Menschen wesentlich einsamer seien, wie das häufige Fliehen in die „Sucht“ zeige. Diese Auffassung wurde verkörpert durch ein Entsetzen widerspiegelndes Gesicht, aus dessen geöffneten Mund eine rote Zunge quoll. Zum Thema „Krieg“ hatte Filippin die größte Figur geschaffen: einen beinamputierten, zwei Meter großen Soldat mit Stahlhelm. Filippin hatte ganz bewusst die „Liebe“ als kleinste Figur dargestellt, weil sie, wenn auch am Anfang der „Kette“ stehend, so doch „gegenwärtig die geringste Rolle spielt“ (Filippin 1987). Inhalt und Material der Skulpturen entsprechen sich. Das wurde am deutlichsten bei den Kettengliedern „Wohlstand“ aus Mahagoni-Holz und „Hunger“ aus alltäglicher Fichte.

Tisa von der Schulenbzrg (Sr. Paula) über Filippins „Die Kette“

 Junge Band mit christlich-sozaialkritischen Texten begleitete die „Kette“

1987 verband Antonio Filippin seine Skulpturen-„Kette“ auch mit Musik. Der Künstler lernte die im März gerade neu gegründete Musikgruppe „BafüG“ kennen, von deren Musik und christlich-sozialkritischen Texten er begeistert war. „BafüG“ stand für Band für Gahlen. Die Musik passte zu den Aussagen seiner Skulpturen. Zu den Musikern gehörten damals Oliver Wischerhoff (Gitarre/Gesang), Siggi Willershäuser (Gitarre/Gesang) Marion Ladda (Bass), Susanne Schlemmer (Keyboard), Ralf Knüfgen (Schlagzeug) und Jörg Knüfgen (Technik), alles junge Leute. Antonio Filippin damals: „Sie wollen mit der Musik ausdrücken, was ich mit dem Ausstellen meiner Skulpturen versuche.“ Musik und Künstler vereinbarten, die „Kette“ künftig mit den Konzerten der jungen „BafüG“-Musiker zu verknüpfen. Zum ersten Mal war diese Skulpturen-Musik-Synthese im Juli 1997 in Oberhausen beim Fest zum 20-jährigen Bestehen des Friedensdorfes zu hören und zu sehen.

Antonio Filippins „Friedensfaust“ wurde vorab in Berlin gezeigt

Skulptur „Folter“

Die Dorstener Künstlerin Tisa von der Schulenburg (Ursuline Sr. Paula) meinte dazu: „Mit den Gestalten seiner Kette hält uns Antonio einen Spiegel hin: Elend, Gewalt, Unterdrückung,  Folter, Einsamkeit heißen seine elementaren Gestalten. Wir sehen und erfahren mit Schrecken, wie es um uns und um unsre Gesellschaft steht. Seine Holzplastiken sind auf die wesentliche Aussage beschränkt.“
So drücken die Gesichter und Gesten der Holzskulpturen Gefühle, Ängste, Ärger, Anerkennung, Betroffenheit aus. Sie spiegeln auch wider, was die Menschen beim Betrachten der Skulpturen auf irgendeinem Marktplatz, in den Straßen und Kunstparks irgendeiner Stadt bewegte. Noch vor Fertigstellung des Projekts wurde die Skulptur „Friedensfaust“ im Juni 1984 in der Ausstellung „Kunstlandschaft Bundesrepublik“ in Berlin gezeigt. Und zwar in der Werkschau „Region Ruhrgebiet“. Von rund 300 an der Ausschreibung beteiligten Künstlern wurde Antonio Filippins „Friedensfaust“ ausgewählt. Für den Künstler sicherlich ein symbolisches Schulterklopfen, an seiner „Kette“ weiterzuarbeiten.

Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe: Im Dorstener Petrinum

Kleinste Figur: die „Liebe“

Nach Fertigstellung 1986 zeigte er „Die Kette“ auf dem Dorsten Marktplatz, einen Tag lang. Die Resonanz war „leichtes Schulterzucken“. Ein alter Mann war empört und forderte, dass diese Figuren sofort vom Marktplatz entfernt werden und dass die Stadt eine solche Provokation verbieten müsse. Solche negativen Reaktionen, hier als Beispiel gebracht, waren allerdings in der Minderheit – in Dorsten wie anderswo. Die meisten Besucher waren von dem Gesehenen zwar schockiert und suchten das Gespräch mit dem Künstler und untereinander. Das war es, was Antonio Filippin auch wollte. Am ersten Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe in der einstigen Sowjetrepublik Ukraine beteiligte sich im April 1987 Filippin mit Skulpturen seiner „Kette“ an der Aktion „Bürgerinnen und Bürger gegen Atomanlagen“ von Schülern des Dorstener Gymnasium Petrinum. Etwa einen Monat später stellte er im Rahmen der „Siegener Sommerspiele“ zwei Tage lang die „Kette“ in der Fußgängerzone in Siegen auf, wo sie „im wahrsten Sinne des Wortes im Weg stand“, wie die „Siegener Zeitung“ schrieb. Danach war sie länger im Park des Oberen Schlosses von Siegen zu sehen.

Frau erkannte in der Skulptur „Einsamkeit“ ihr eigenes Schicksal

„Einsamkeit“ – Marktplatz in Oldenburg 1987

Im Juli 1988 ging „Die Kette“ auf eine längere Reise in den Norden, um im „Oldenburger Kultursommer“ gezeigt zu werden. Diese Einladung vom dortigen Kulturdezernenten war ein kulturelles Highlight für den Dorstener. Oldenburg hatte damals rund 140.000 Einwohner und die „Kette“ wurde direkt auf dem Oldenburger Marktplatz gezeigt. Es gab wohl einige negative Äußerungen, aber viele positive. Eine ältere Frau, 1945 aus ihrer Heimat Schlesien vertrieben, blieb vor der Plastik „Einsamkeit“ stehen, die in der Figur ihr eigenes Schicksal erkannte, weinte und Antonio Filippin und den Umstehenden ihre Lebensgeschichte erzählte, eine, die in schmerzende Einsamkeit mündete. Filippin tröstete sie. Da öffnete die Frau ihre Geldbörse und gab ihm etwas Geld mit den Worten: „Damit Du auch etwas zum Leben hast – mehr hab ich nicht!“ Filippin nahm das Geld gerührt an. „Ich bewahrte es viele Jahre lang wie einen Schatz!“, erinnert er sich heute. Antonio Filippin wollte mit seiner „Kette“ die Leute nicht deprimieren, sondern zum Nachdenken und zu einem bewussten Leben anregen. Er animierte den Betrachter, mit eigenen Anregungen zur Aktion „Die Kette“ beizutragen.

Fotografen-Gruppe begleitete Filippins Arbeit anderthalb Jahre

Dieser unausgesprochenen Forderung kam die Fotogruppe der Borbecker Leichtmetallgesellschaft nach, die Filippins Arbeit an der Kette anderthalb Jahre mit der Kamera begleitet hatte und im August 1988 in Schloss Borbeck eine Fotoausstellung darüber präsentierte. Das Unternehmen Leichtmetallgesellschaft (LMG) in Essen hatte Filippins „Kette“ bereits ein Jahr zuvor auf seinem Werkgelände gezeigt, dem sich eine Präsentation im Friedensdorf Oberhausen angeschlossen hatte.

Prozession zum Volkstrauertag in Gelsenkirchen mit Kreuz und „Kette“

„Buersche Zeitung“, 12. November 1988

Im November 1988 holte Pfarrer Dr. Rolf Heinrich von der evangelischen Lukas-Gemeinde in Gelsenkirchen-Hassel die Skulpturen-„Kette“ nach Hassel. Er brachte Filippins „Kette“ mit dem Christentum zusammen. Alljährlich gedachte die Gemeinde in einer Prozession am Volkstrauertag aller, die Opfer des Krieges geworden waren, die an Hochrüstung und Atomwaffen leiden. Die Angst vor Aufrüstung und Krieg sollte nicht vergraben, sondern öffentlich gemacht werden. „Wenn wir mit Kreuzen durch die Straßen Hassels ziehen, dann gehen wir auf die Straße, um unsere eigene Angst, unsere Hilflosigkeit und Ohnmacht öffentlich zu zeigen“, so Pfarrer Heinrich. Daher stellte er Filippins „Ketten“-Arrangement  neben das Kreuz, denn die „Kette“ symbolisierte die vielfältigen Leiden, die Menschen auf dieser Welt erfahren. Die Symbiose zwischen Kreuz und „Kette“ wurde sichtbar, als die Gläubigen auf dem Prozessionsweg zwischen Hasseler Marktplatz und dem nahen Friedhof mit ihren Kreuzen an der „Kette“ entlang gingen. Und so manchem wurde damals klar, dass das Kreuz im Christentum unter Kaiser Constantin nicht als das Leidenssymbol eingeführt wurde, sondern als Triumphkreuz und wurde seither oft genug für Macht, Ehre und Krieg missbraucht. Es prangt sogar heute noch auf Bombern und Panzern – sowie neuerdings zwangsweise in bayerischen Staatsgebäuden, wenn dieser kleine Hinweis hier erlaubt ist.

Wo ist „Die Kette“ heute? Schulterzucken. In der Stadtbibliothek Dorsten gib es ein kleines Heft über das Projekt, das damals von Antonio Filippin selbst herausgegeben wurde. Allerdings werden wir weiter recherchieren, wo das „Die Kette“ oder einzelne Figuren davon verblieben sind. Wir kommen dann darauf zurück.


Quellen: Informationen von Antonio Filippin (Seychellen 2018). – Informationsbroschüre „Die Kette“, o. J. – WAZ Dorsten vom 8. Juni 1984. – WAZ Dorsten vom 8. Juli 1986. – RN Dorsten vom 14. Jan. 1987. – RN Dorsten vom 28. Apr. 1987. – RN Dorsten vom 8. Mai 1987. – Nordwest-Zeitung vom 6. Juli 1987. – Ev. Pressedienst Ruhr (epd) vom 15. Juni 1987. – NRZ vom 23. Aug. 1988. – Buersche Zeitung vom 12. Nov. 1988.

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