Kaplan missbrauchte Messknaben, floh, kam zurück und wurde verurteilt
1890 bis 1943 in Löningen; entlassener Kaplan. – 2010 erschütterten Berichte über Missbrauch von Kindern vornehmlich in der katholischen Kirche und in privaten Internaten die Öffentlichkeit und die Grundfesten der Kirche. – Ein Missbrauch, begangen von einem 44-jährigen Geistlichen an ihm zum Schutz anbefohlenen Jungen, erregte schon 1934 die Amtskirche und die Dorstener Öffentlichkeit. Am „Tag des ewigen Gebetes“ (16. September 1934) kam „durch Zufall“ heraus, dass sich Kaplan Veldtrup von St. Agatha an „Messknaben vergangen“ hatte. Ob dies erst im September durch Zufall bekannt wurde, mag bezweifelt werden, denn der Bischof von Münster ordnete schon am 11. Juni 1934, also drei Monate vorher, die Versetzung Veldtrups nach Nordwalde an. Die Versetzung wurde aber wieder rückgängig gemacht, weil der Kaplan „sich mit Hals und Kragen sträubte“, die Stelle anzunehmen. Veldtrup, der erst zum 30. April 1930 nach Dorsten kam, blieb.
Polizeiermittlungen: Kaplan flüchtete ins nahe Holland
Pfarrer Ludwig Heming erfuhr über den Missbrauch schon wenige Tage vor dem 16. September 1934 von Pater Raimundus Dreilling, dem früheren Provinzial der Franziskaner. Die Untersuchung des Falls durch die Kirche ergab die Schuld des Kaplans. Er verließ Dorsten noch am Abend des „Ewigen Gebetes“ und fuhr nach Essen. Am andern Tag soll er nach „Holland geflüchtet“ sein. Pfarrer Heming schrieb in die Chronik:
„Die Sache hat gewaltiges Aufsehen in der katholischen Bevölkerung erregt, zumal der Kaplan als heiligmäßiger Priester bei der Bevölkerung in hohem Ansehen stand. Es waren für mich furchtbare Tage, wie ich sie in Dorsten noch nicht mitgemacht habe.“
Bevölkerung regte sich mehr über den Zeitungsbericht auf als über die Tat
Durch einen Artikel der nationalsozialistischen „National-Zeitung“ vom 21. September 1934 wurde die Erregung der Bevölkerung weiter angespornt. Unter der Überschrift „Kaplan als Sittlichkeitsverbrecher entlarvt – Kaplan Veldtrup von der St. Agatha-Pfarre hat sich an minderjährigen Jungen der biblischen Sturmschar vergangen – er ist von seinem Dienst bereits beurlaubt – vor seiner Verhaftung flüchtig geworden.“ Die Erregung der Bevölkerung richtete sich nun aber nicht gegen den geistlichen Missetäter, sondern gegen die Zeitung, die, wie Heming in seiner Chronik berichtet, von etlichen Dorstenern abbestellt worden sein soll. Weiter schrieb das Blatt:
„Zu gleicher Zeit leitete auch der Pfarrer der Gemeinde eine Untersuchung gegen den Kaplan ein, da ihm die Gerüchte über das schändliche Treiben des Kaplans zu Ohren gekommen waren. Im Verlauf der Vernehmungen musste sich der Pfarrer von der Richtigkeit der vorgebrachten Beschuldigungen überzeugen lassen, sodass er den Kaplan schon vor einigen Tagen von seinem Dienst beurlaubte. Leider hat es der Pfarrer nicht für notwendig erachtet, die Sache bei der Polizei anzuzeigen, die als einzige Instanz berechtigt ist, eine restlose Klärung der Dinge herbei zu führen.“
Pfarrer Heming beschwerte sich, dass „dieser ungeheuerliche Satz“ vom „Vorstande der hiesigen NSDAP“ gebilligt wurde. Dafür, so Pfarrer Heming, hätte sich die NSDAP bei ihm entschuldigt. Pfarrer Ludwig Heming fuhr nach Münster, um dem Generalvikar Mitteilung über den Vorfall zu machen. Schon am 21. September kam mit Kaplan Wilhelm Schneider aus Münster-St. Mauritz Ersatz für den entlassenen Kaplan Veldtrup.
Veldtrup kehrte zur Gerichtsverhandlung von Holland zurück
Ein angesetzter Verhandlungstermin vor der Strafkammer des Landgerichts Essen wurde im Dezember 1935 vertagt, weil der Anwalt Veldtrups versicherte, dass er seinen nach Holland geflüchteten Mandanten zurück erwarte. Die Verhandlung fand am 21. Februar 1936 vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Essen statt. Die „National-Zeitung“ berichtete am 22. Februar unter der Rubrik „Rheinisch-Westfälischer Industriebezirk“ unter der Überschrift „Kaplan Veldtrup vor dem Richter – 2 ½ Jahre Gefängnis wegen Sittlichkeitsverbrechens“, dass Veldtrup in nichtöffentlicher Sitzung „wegen vollendeten Sittlichkeitsverbrechens in sieben Fällen und eines Versuchs an Minderjährigen unter Zubilligung mildernder Umstände“ verurteilt wurde. „Der Staatsanwalt hatte eine Zuchthausstrafe von vier Jahren gefordert und die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von fünf Jahren beantragt.“ Kaplan Veldtrup hatte die Taten vor Gericht weder zugegeben noch geleugnet. Er musste durch Zeugenaussagen überführt werden. Die „National-Zeitung“, die ansonsten nationalsozialistische Häme über Geistliche öffentlich ausschüttete, die vor Gericht standen, berichtete über die Veldtrup-Verhandlung mit großer Sachlichkeit und vermied jegliche Polemik. Vermutlich lag dies an der Begründung der mildernden Umstände für Veldtrup:
„In der Urteilsbegründung führte der Vorsitzende aus, dass es für das Gericht nur die eine Frage gab, ob man dem Angeklagten mildernde Umstände zubilligen könne. Es sei gewiss eine sehr üble Tat, wenn ein Mensch in der Stellung und mit den Pflichten des Angeklagten sich an minderjährigen Knaben vergreife, auf der anderen Seite müsse aber berücksichtigt werden, dass durch die langjährige Kriegsgefangenschaft das Nervensystem so zerrüttet wurde, dass der Angeklagte nicht mehr die Hemmungen aufbringen konnte, die ein gesunder normaler Mensch besitze. […] Die Strafe dürfte aber nicht gering ausfallen, und darum habe das Gericht eine Gefängnisstrafe in der erkannten Höhe für eine ausreichende Sühne gehalten.“
Pfarrer Heming, der bei der Verhandlung in Essen anwesend war, berichtete aus seiner Sicht:
„Kaplan V. saß in Civil auf der Anklagebank. Der Vorsitzende ermahnte die 14- bis 15-jährigen Jungen, die Wahrheit zu sagen. Es handle sich um die Ehre eines Priesters, und wenn sie auch in der Voruntersuchung etwas anderes ausgesagt hätten, sollten sie jetzt ruhig die Wahrheit sagen und bedenken, dass sie unter Eid ihre Aussagen machen müssten. Wenn sie die Unwahrheit sagten, begingen sie eine Todsünde (der Richter war ein guter Katholik). Zuerst wurden die Knaben und die Eltern vernommen, was endlos lange dauerte. Dann mussten sie den Saal verlassen und der Pastor wurde verhört. Seine Aussage ist der Chronik beigefügt. Nach ihm wurde Rektor Maybaum vernommen, beide wurden aber nicht vereidigt.
Der Staatsanwalt hielt sodann eine furchtbare Anklagerede, in der er u. a. sagte, dass der Kaplan sein Amt als Erzieher in einer nichtsagenden (sic!) Weise missbraucht habe. Für jeden einzelnen Fall beantragte er 1 bis 2 Jahre Zuchthaus, sodass er schließlich auf eine Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus kam. Da aber das Gesetz als Höchststrafe nur 4 ½ Jahre Zuchthaus zulasse, beantragte er diese Strafe, dazu 3 Jahre Ehrverlust.
Der Rechtsanwalt hielt nun seine Verteidigungsrede, die recht matt war. Auf die Frage des Richters, ob er selbst noch etwas sagen wolle, erhob sich Kaplan V. und hielt eine glänzende Verteidigungsrede. Er sagte u. a.: Man hat mit Kriegsopfern immer das größte Mitleid, und ich bin doch ein Kriegsopfer, wie es selten eines gegeben hat. 6 ½ Jahre war ich in der Hölle Sibiriens, und was ich dort durchgemacht habe, lässt sich mit Worten nicht schildern. Weil meine Nerven vollständig ruiniert sind, habe ich keine Erinnerung mehr von den Dingen, weswegen ich hier vor Gericht stehe. Wenn das Gericht mich freisprechen wird – und das hoffe ich – will ich mich ganz von der Welt zurückziehen und in einem Kloster mein Leben lang Buße tun. Seine Nerven machten sichtlich Eindruck auf Richter und Beisitzer. Nach einer halben Stunde wurde das Urteil verkündet: V. wurde unter Anrechnung der Untersuchungshaft zu 2 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. Alle atmeten auf, als V. erklärte: ich nehme die Strafe an.“
Veldtrup verbüßte die Strafe im Gefängnis zu Essen. Wegen guter Führung wurde er vorzeitig entlassen und lebte bei seiner Schwester in Altenessen. Seine Bemühungen, erneut im Kirchendienst tätig zu werden, lehnte die bischöfliche Behörde ab. Josef Veldtrup verzog am 7. August 1943 nach Lönungen i. O., wo er zwei Monate später, am 12. Oktober, im Alter von 53 Jahren im dortigen Krankenhaus verstarb. Beigesetzt wurde er in Cloppenburg. Erstaunlich, dass die Kirche ihn, den verurteilten Täter, als „Opfer“ bezeichnete. Denn in seinem von der KIrche 1943 herausgegebenen Totenzettel (Bild oben) steht: „Sein ganzes Leben war ein Opfer und Leidensweg!“
1941 verging sich ein weiterer Kaplan der Kirchengemeinde St. Agatha an Minderjährigen: Kaplan Hermann Kompa. 2014 wurde bekannt, dass sich auch der Dorstener Franzskanerpater Heribert Griesenbrock an ihm anvertraute Internats-Jungen sexuell vergangen hatte.
Zur Sache:
Messdiener-Missbrauch heute – Studie 2018: im Bistum Münster 480 Opfer
Der Missbrauchsbeauftragte der Diözese Münster, Hans Döink, präzisierte Opfer- und Täterzahlen. Danach sind von den 56 bis zum Jahr 2001 Beschuldigten 27 verstorben. 29 Fälle seien von der Kommission untersucht, 17 davon an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet worden. In 12 Fällen sei dies auf Wunsch der Opfer unterblieben. Von den 106 Opfern zwischen 1948 und 2001 waren laut Döink 84 männlich und 22 weiblich; 84 Prozent waren zwischen 14 und 17 Jahre alt. „Die Taten fanden im Umfeld von Messdienerarbeit, bei Ferienfreizeiten oder im Pfarrhaus statt“, erläuterte der Kommissionsleiter. Dabei habe es sich zu 90 Prozent um Betrachten oder Berühren und zu 65 Prozent um Onanie gehandelt.
Seit 1946 sollen fast 3.700 Kinder und Jugendliche in Deutschland von katholischen Priestern missbraucht worden sein. Das steht in einer Studie, die Ende September 2018 veröffentlicht wurde. Viele Taten geschahen auch im Bistum Münster, zu dem Dorsten gehört. Die nach Aktenlage festgestellten 480 Missbrauchs-Opfer waren fast nur Jungs im Alter zwischen 4 und 21 Jahren. Ein Bistumssprecher forderte härtere Strafen für die Täter. Außerdem ermutigte er die Opfer, zu erzählen, was ihnen angetan wurde. Die Zahl 480 dürfte weitaus höher sein. Nicht alle Missbräuche kamen zu Anzeige und nicht alle Missbrauchskaten wurde geöffnet, weil sie im bischöflichen Geheimarchiv lagern, zu denen die Gutachter keinen Zutritt hatten.
Siehe auch: Kaplan Hermann Kompa
Siehe auch: Pater Heribert Griesembrock