Sr. Paulas Einstein-Köpfe

Ein Wirrwarr von Gips-, Zement-, Ton- Bronze- und Alu-Gießformen

Aus eigenem Miterleben erzählt von Wolf Stegemann. – Was verbindet die Künstlerin und Nonne Tisa Gräfin von der Schulenburg (†), den früheren Geschäftsführer des Max Planck-Instituts Dortmund Dr. Plesser, Dortmunds vormaligen OB Keuning (†), den Kurator des Skulpturenmuseums Marl Stephan Wolters und den Dorstener Journalisten Wolf Stegemann? Einsteins Kopf!

Wer Tisa von der Schulenburgs Werksverzeichnisse durchsieht, übersieht leicht einen Kopf, nämlich den des Physikers Albert Einstein. Tisa Gräfin von der Schulenburg lebte von 1950 bis 2003 als Sr. Paula und künstlerische Nonne im Ursulinenkloster in Dorsten. Der Kopf, den sie hinterließ, wird leicht übersehen, nicht, weil Sr. Paula eine überaus fleißige Kunst-Produzentin war, sondern weil es zu ihrem Einstein-Kopf in Büchern und Verzeichnissen im Gegensatz zu ihren Themen Holocaust, Flüchtlinge 1945, Lepra oder zu ihrem Adenauer-Kopf, so gut wie keine Informationen gibt. Die Texterklärungen zu dem Kopf sind karg oder gar nicht vorhanden. Das scheint sich nun zu ändern, wenn auch in verwirrendem Maße. Dementsprechend mag auch diese Geschichte hier und da für den einen oder anderen Leser verwirrend erscheinen. Was ist geschehen?

Wie kam Dortmunds Oberbürgermeister zu Tisas Einstein-Kopf?

Dr. Theo Plesser vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund schrieb mich Anfang Januar 2017 an und teilte mir mit, dass er eine Gussform aus Gips des Einsteinkopfes habe. Den habe das Institut zum Jubiläum 1961 als Geschenk vom Dortmunder Oberbürgermeister Dietrich Keuning (1954-1969) geschenkt bekommen. Und wie es oft mit Geschenken geschieht, die dann so herumstehen und verstauben, und von denen irgendwann keiner mehr weiß, was das ist und von wem und weshalb. So geschah es etliche Jahre später mit Sr. Paulas Einstein‘schen Gipskopf. Eines Tages  wanderte er  in den Schuttcontainer, aus dem Dr. Plesser ihn in letzter Minute wieder herausholte. Jetzt wollte Theo Plesser mehr über diesen Kopf erfahren. Vor allem wie das Beziehungsgeflecht zwischen Dortmunds Oberbürgermeister, Dorstens Künstlerin Sr. Paula und ihrem Einstein-Kopf zusammenhing. Da ich in meinem Sr. Paula-Archiv Fotos des Original-Bronzekopfes hatte, lagen damit schon zwei visuelle Kopf-Ansichten vor. Allerdings zeigten sie unterschiedliche Modellierungen, was die Geschichte noch verwirrender machte und neue Fragen aufwarf. Weder das Stadtarchiv Dortmund, noch das von Dorsten, auch nicht die Dorstener kommunale Tisa von der Schulenburg-Stiftung und auch nicht die Metallgießerei Petit & Edelbrock in Gescher, wo das Kloster die Metallarbeiten ihrer Nonne gießen ließ, konnten zur Klärung beitragen. Bestenfalls bruchstückhaft.Schließlich fand Theo Plesser den gesuchten Albert Einstein auf der Inventarliste des Skulpturenmuseums Glaskasten in Marl. Unter Nummer 447 sind im dortigen Museums-Kleindepot gleich zwei Köpfe mit dem Fertigungsjahr 1962 registriert: ein Gipskopf für den Guss und ein bereits aus Bronze gegossener mit der dazugehörenden Rechnung der Firma Petit & Edelbrock in Höhe von 351 DM. Heute, 55 Jahre später, würde dieser Abguss, so die Firma, über 1000 Euro kosten.

Kopfvergleiche im Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl

Also machten sich Theo Plesser mit seinem Einstein-Kopf von Dortmund aus und ich mich mit meinen Originalfotos aus den 1960er-Jahren von Dorsten im März 2017 auf den Weg nach Marl, um mit dem Kurator des „Skulpturenmuseums Glaskastens“, Stephan Wolters, und dessen zwei Einstein-Köpfen einem Abgleich zu treffen. Wir verglichen und kamen zu dem Ergebnis, dass weitere unterschiedliche Gipsmodelle vorlagen und konnten aber die Frage nach dem Warum dieser Unterschiedlichkeiten nicht beantworten. Auch andere Fragen blieben offen, denen Theo Plesser weiter nachgehen wird, um Antworten zu finden. Absatz!
Monate später konnten wir dann doch noch tiefer in die Geschichte des Einstein-Kopfes eintauchen. Theo Plesser berichtete im Juli 2017,  nachdem er die Bronzegießerei in Gescher aufgesucht hatte: In den Jahren 2003/2004 hatte die Gießerei eine Liste der Gießmodelle/Gussformen von Schwester Paula erstellt – insgesamt 190 Modelle! Und der Einstein war dabei. Leider hatte das Ursulinenkloster verschiedene Modelle indiziert mit dem Vermerk „vernichten“. Unter diesen befanden sich auch Einstein-Köpfe! Da die Erstellung einer Gießform der aufwendigste Schritt ist, hat es wohl nur eine Einstein-Gießform gegeben. Theo Plesser vermutet, dass Sr. Paula statt eines Hohlkopfes aus Bronze einfach Gips oder Zement in die Form hat gießen lassen. Die Gießer sagten, dass das zwar nicht üblich sei, aber damals hätten sie solches für eine gute Kundin wie Sr. Paula sicherlich schon mal gemacht.

Westfälische Rundschau Dortmund 1961 (Ausriss)

Tisas Rückblick auf ihre Begegnungen mit Albert Einstein

Allerdings brachte uns ein Dokument im Archiv des Marler „Glaskastens“ bei der Frage weiter, warum Tisa von der Schulenburg überhaupt den Einstein modellierte und gießen ließ: „Weil er für mich in ganz besondere Weise Repräsentant der 20er-Jahre in Berlin ist“, schreibt sie. Und weiter:

„Freilich ein Sonderfall. Ein Mensch, der sich in großer Gesellschaft immer ein wenig abseits hielt. … Abseits aus großer Bescheidenheit. Wie darüberstehend. Immer mit diesem gütigen strahlenden Lächeln und immer strahlend wie ein großer Junge, mit einem leise verschmitzten Zug im Gesicht. Schon früh umgaben die Falten die Augen wie einen Kranz. Groß und stattlich gewachsen, ein guter Sportler, für den der offene Kragen typisch war, die Haarmähne immer wild. Er ließ die Haare damals schon lange wachsen und sie umstanden das Gesicht wie eine Aureole. Kein Gespräch, dessen ich mich erinnern kann. Auf die Relativitätstheorie hätte man ihn nie angesprochen, wer hätte das gewagt. Nein, aber einige kurze Worte, sein gütiges Lächeln. Das alles genügte, um das schnelle Einverständnis herzustellen, diese dünne Verbindung von Mensch und Mensch.“

Tisa von der Schulenburg berichtet auch über eine Begegnung mit dem Maler Liebermann in Berlin, zu der sie ihre Mutter mitgenommen hatte, um von ihm zu erfahren, ob es Sinn habe, wenn ihre Tochter Tisa Kunst studiere. „Er riet mir übrigens zum Studium.“ Dann schreibt sie über das Berlin der Zeit von 1919 bis 1933. In dieser Zeit der Auseinandersetzungen habe sie das Elend und die Ressentiments der Provinz, aus der sie stammte, gänzlich vergessen.

„Als ich 1925 nach Berlin kam, nahm mich das brausende Tempo der Stadt sogleich gefangen, nicht nur das Tempo, diese eine große Hoffnung, etwas Neueres, Besseres zu schaffen. Wegbereiter einer neuen Zeit zu sein. Hoffnungen, die sich in der Liga für Menschenrechte, im PEN-Club und in der Pan-Europa-Bewegung verkörperten. Ob Einstein Mitglied der Liga für Menschenrechte war, ist mir entfallen, ich weiß nur, dass er Pazifist war und dass er sich für alle politischen Fragen sehr interessierte. Ich lernte ihn im Hause von Hugo Simon kennen. Hugo S. war 1918 für einige Zeit preußischer Innenminister gewesen, er war Sozialdemokrat. Ständige Gäste seines Hauses waren Scheidemann, Hilferding und Heilmann sowie Otto Braun, der preußische Ministerpräsident, und Berlins Oberbürgermeister Gustav Böß (1921-1929). Der große Strafverteidiger Paul Levi, der, einst ein guter Freund von Lenin, sich von der KPD absetzte und zum linken Flügel der Sozialdemokratie stieß.“

Tisa von der Schulenburg zählt noch weitere Personen auf, denen sie im Hause Simon begegnete wie Thomas und Heinrich Mann, Remarque, Zweig, Kerr, Lasker-Schüler, Brecht, Zuckmayer und vielen anderen.

„Am häufigsten bin ich jedoch Einstein in Verch bei Potsdam begegnet; sein Wochenendhaus lag neben dem des Dr. Bett, des Kompagnons von Hugo Simon. Dort trafen wir uns sonntags und gingen mit Dr. Bett stundenlang in den herrlichen Wäldern an den Havelseen spazieren. Immer begleitete uns die Katze von Dr. Bett, das gehörte zum eigenartigen Zauber dieser improvisierten Treffen. So, wie ich ihn [Einstein] damals sah, bevor das Entsetzen von 1933 über uns kam und uns in die ganze Welt verstreute und alle Hoffnungen vernichtete, so habe ich sein Bild immer in mir getragen. Zum Gedenken seiner und dieser zerschlagenen, vernichteten Welt habe ich diesen Kopf gemacht.“ (Unterschrift „Mater Paula, St. Ursula, Dorsten“).

Vergleiche der Einstein-Köpfe im Glaskasten: Dr. Plesser (Mitte); Fotos (2): Wolf Stegemann

So viele Köpfe, so viele Erklärungen und so viele Fragezeichen

Zurück in die Gegenwart. Inzwischen blieb die Suche nach den Motiven, warum so viele unterschiedliche Gießformen des Einstein-Kopfes modelliert wurden, schwierig und erforderte fast detektivischen Spürsinn. Handfeste Ergebnisse hat es bislang nicht gegeben. Theo Plesser hatte eifrig Einstein-Biografien durchgesehen, um die Personen zu finden, die den lebenden Einstein mit Tisa von der Schulenburg in Zusammenhang bringen könnten. Einzige „Verbindungsperson“ war der Bankier Hugo Simon.

Tisa von der Schulenburg

Neue Erkenntnisse über den Einstein-Kopf brachte dieser Kontakt aber nicht. Also studierte Theo Plesser Literatur über Einstein. Dabei fand er den amerikanischen Künstler Robert S. Berks, der 1953 einen Einstein-Kopf modellierte. Frappierend ist, dass dieser Kopf „unwahrscheinlich große“ Ähnlichkeit mit dem später von Sr. Paula in Dorsten entstandenen Einstein-Kopf hat. Vielleicht gibt es dazu eine Erklärung: Als Vorlage für ihre Tuschezeichnungen (Judenverfolgung, Lepra-Kranke, Flüchtlinge u. a.) nahm sie Fotos aus Illustrierten und dergleichen zur Hand und übertrug sie mit Tusche auf Zeichenpapier. Das hat sie mir selbst mehrmals gesagt und auch gezeigt. So kann es auch mit dem Tisa-Kopf gewesen sein, den sie nach einem Foto des amerikanischen Künstlers modellierte, denn aus dem Gedächtnis hatte sie den Einstein sicherlich nicht modelliert. Sr. Paula wurde bei entsprechenden Anlässen immer wieder gefragt, wann denn ihr Einstein-Kopf entstanden sei. Sie konnte keine Angaben machen, da sie sich nicht erinnerte, wie aus den zeitgenössischen Presseveröffentlichungen hervorgeht, die Theo Plesser im Stadtarchiv fand (WAZ und DZ vom 18. Jan. 1996).

Theo Plesser bleibt am Ball –  besser gesagt: auf der Suche

Bei einem nochmaligen Besuch in der Kunstgießerei in Gescher Ende 2017, die den Kopf doch mehrmals gegossen hatte, sprach Theo. Plesser mit den zuständigen Fachleuten. Geklärt wurde, dass die Künstlerin selbst von dem von ihr modellierten Tonmodell auch die Gipsköpfe formen konnte. Ob allerdings der noch in Dorsten befindliche Aluminiumkopf Einsteins, der eine Zeitlang in der Stadtbücherei zu sehen war und jetzt im Kulturamt deponiert ist, überhaupt in Gescher gegossen wurde, bezweifelt man dort. Doch ist noch „nicht aller Tage Abend“, wie der Volksmund sagt. „Im Moment“, so Theo Plesser, „ist meine Hypothese, dass unser Einstein von Sr. Paula in Gips gegossen wurde und das erste Exemplar nach der Modellierung aus Ton bestand!“

Das Gute an der Spurensuche. Kein kopfloses Abenteuer

Allerdings führt die Spur verwirrend (noch) ins Leere, wie dieser Dorstener Kopf, von dem es mehrere unterschiedliche gibt, aus dem Ursulinenkloster an den Dortmunder Oberbürgermeister geraten ist, der ihn dann dem Dortmunder Max-Plank-Institut geschenkt hatte. Noch ist nicht allen Spuren nachgegangen worden. Theo Plesser: „Es bleibt ein spannendes aber zumindest kein kopfloses Abenteuer.“ Da hat er Recht.

Siehe auch: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl
Siehe auch: Tisa von der Schulenburg
Siehe auch: Wolf Stegemann


Anmerkung: Das Arbeitspapier Sr. Paulas, aus dem hervorgeht, warum sie Einsteins Kopf herstellte, ist nicht datiert. Offensichtlich stammt es aus der Mitte der 1960er-Jahre. Ihre  intensive Begegnung mit Albert Einstein ist sonst in keiner ihrer gedruckten Erinnerungen  geschildert und meines Wissens im Wesentlichen auch nicht bekannt. Die Auszüge wurden hier lediglich bei einigen aufgeführten Personen um Hinzufügung der Vornamen und Jahreszahlen zur besseren Einordnung für den Leser ergänzt.

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