Lembeck / Rechtsstreit 1602

Jüdische Kaufleute widerrechtlich im Schloss Lembeck festgehalten

Von Wolf Stegemann – Am 12. November 1602 begann mit der Festnahme von zwei jüdischen Kaufleuten auf Lembecker Gebiet durch den Schlossherrn von Lembeck, den Freiherrn Matthias von Westerholt, ein Streit, an dem auch die Landesherrschaften in Köln und Münster sowie der Herzog von Kleve beteiligt waren. Der Prozess zog sich vor dem Reichskammergericht als Präzedenzfall bis 1803 hin. Wegen der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wurde er nie entschieden. Es ging um das Recht der Erteilung von Judengeleit an den Grenzen der Herrlichkeit Lembeck.

Zwei jüdische Händler

Zwei jüdische Händler

Juden mussten ihre eigene Fangprämie bezahlen

Die zwei vom Herzog von Kleve vergleiteten (unter Schutz stehende) Juden, Jacob Levi Kopman aus Rees und Lazarus (Leser) Judd aus Büderich, wurden nach Überschreiten der Herrlichkeitsgrenze von zwei holländischen Soldaten gefangen genommen und mit der Forderung einer Fangprämie dem Lembecker Burgvogt übergeben. Die Verhandlung über die Höhe der Summe zog sich fünf Monate lang hin. Solange mussten die beiden Juden im Gefängnis und die holländischen Reiter in der Burg bleiben; ein Vergleich über die Freilassung wurde erst am 16. April 1603 geschlossen. Die beiden Kaufleute mussten sowohl ihre eigene wie auch die der beiden holländischen Soldaten Verköstigung und zuletzt auch noch ihre eigene Fangprämie bezahlen. Dann kamen sie unter Zahlung einer hohen Geldstrafe wieder frei. Wegen „unvergleiteten“ Aufenthalts mussten Kaufmann und Leser eine Strafe in Höhe von 375 Reichstalern zahlen: 25 Reichstaler an den Schlossherrn und 350 Reichstaler Prämie für die Reiter, wovon der Schlossherr wieder 56 Reichstaler für Kost und Logis der Reiter sowie Wartung der Pferde zurückbehielt. Das war in der damaligen Zeit eine sehr hohe Summe.

Kassiber der Juden aus dem Lembecker Gefängnis

Sprachgeschichtlich interessanter Kassiber der Juden aus dem Lembecker Gefängnis (JMW)

Westerholt blieb stur

Inzwischen war ein Rechtsstreit zwischen Kleve, Münster und Lembeck entstanden, denn die beiden Juden standen unter dem ausgewiesenen Schutz des Herzog von Kleve für dessen Gebiet und des Bischofs von Münster für dessen Bereich, in dem Schloss Lembeck liegt. Nach des Bischofs Rechtsauffassung, der Bischof war Lehnsherr des Lembecker Schlossherrn, hatten die beiden Juden gemäß kaiserlichen Privilegs sicheres Geleit auch außerhalb der klevischen Grenzen. Der Lembecker Burgherr erkannte dies nicht an und berief sich auf seine Landeshoheit in der Herrlichkeit. Daraufhin verklagte der Herzog von Kleve den Lembecker bei dessen Landesherrn, dem Bischof von Münster, der in Personalunion auch Erzbischof von Köln war. Bürgermeister und Räte der beiden Gemeinden, aus denen die Juden stammten, setzten sich beim Freiherrn von Westerholt erfolglos für die Freilassung der Juden ein. Dieser beharrte auf seinem wohl vermeintlichen Rechtsstandpunkt, über das Judengeleit selbst zu bestimmen, auf den die Lembecker Schlossherren noch bis zum Jahr 1800 pochten. Der Freiherr wie seine gräflichen Nachfahren beriefen sich dabei auf den Beschluss der Stände von 1584, dass „kein Zigeuner oder Heide oder Jude in diesem Stift geduldet oder vergleitet noch beherbergt oder sonst untergebracht werden solle“.

Rechtsstreit beim Reichskammergericht anhängig

Inzwischen gelangte der Streit zum Reichskammergericht nach Speyer. Da die münstersche Regierung stillschweigend die Strafzahlung der beiden Juden wegen „unvergleiteten“ Betretens der Herrlichkeit hinnahm, fasste der Lembecker Freiherr dies als Zustimmung auf und bestärkte in vielen Briefen seinen Rechtsstandpunkt. Das Reichskammergericht wurde nicht sonderlich tätig, da keiner der Streitparteien mehr an dem Fall wirklich rührte. Lediglich die Lembecker Schlossherren beharrten auf ihrem Standpunkt und bezogen sich in den beiden folgenden Jahrhunderten immer wieder auf den Fall von 1602, wenn wieder Juden ihr Gebiet betreten oder sich dort niederlassen wollten.

Kassiber ist wichtiges Dokument der jiddischen Sprache

Als die beiden jüdischen Kaufleute noch als Geiseln im Lembecker Gefängnis saßen, versuchten sie einen Brief an ihre Ehefrauen hinauszuschmuggeln. In dem Kassiber gaben die beiden Männer den Frauen Anweisungen, was sie tun sollten, um ihre Freilassung zu beschleunigen. Der zweiseitig beschriebene Kassiber wurde abgefangen. Auf der einen Seite haben die Männer geschrieben, auf der anderen die Frauen geantwortet. Dennoch erfuhren die Ehefrauen Esther und Agate durch einen christlichen Mitreisenden der beiden Juden vom Los ihrer Männer. Somit gelang es ihnen, den Herzog von Kleve, unter dessen Schutz die beiden standen, gegen die Geiselnahme zu protestieren. Auch konnten sie ihre beiden Männer im Gefängnis besuchen. In dem Kassiber, den Jacob Kaufmann an seine Frau Esther schrieb, berichtet er von der schweren Gefangenschaft und flehte seine Frau um Hilfe an. Er empfahl ihr den Verkauf aller Vorräte an Gerste, auch „solle sie etwas dazuleihen, damit ich in Ehren hier rauskomme“. Der Kassiber wird im Jüdischen Museum Westfalen aufbewahrt. Prof. Erika Timm von der Universität Trier hält diesen in westjiddischer Sprache geschriebenen Brief von 1602 als ein bedeutendes Sprachdokument der jiddischen Sozial- und Sprachgeschichte.

Gegen das Verbot des Bischofs dennoch Juden vergleitet

Um eine „gewisse Unabhängigkeit“ nach außen und nach innen und vor allem gegenüber Landesherrn, den Bischof von Münster, zu gewinnen, festigten die Herren von Schloss Lembeck ihre Herrschaft im 16. Jahrhundert. So fügte Matthias von Westerholt zu Lembeck bereits 1592 einem Auszug aus der vom Bischof erlassenen Landesordnung aus eigener Machtvollkommenheit verschiedene Paragrafen hinzu. Dietrich Conrad von Westerholt ging sogar noch weiter. Er hatte das Verbot des Weinbranddestillierens von 1697 nicht nur in der Herrlichkeit Lembeck nicht befolgt und stattdessen ein anderes publizieren lassen, sondern selbst ein beträchtliches Quantum destillieren lassen und zum Teil selbst verkauft und den Weinbrand in der Herrlichkeit durch andere verkaufen lassen.. Deshalb wurde er vom Landesherrn am 28. Mai 1700 mit einer Strafe von .000 Talern belegt. Dagegen beschwerte sich der gemaßregelte Schlossherr und berief sich in seiner Beschwerde beim Reichskammergericht in Speyer auf die von ihm ausgeübten Hoheitsrechte über die Unterherrlichkeit Lembeck. Ein Urteil ist nicht bekannt.

Graf von Merveldt bestand auf das Vergleitrecht

Im Jahr 1739, die Schlossherren waren nun Merveldter und in den Reichsgrafenstand erhoben, hatte der Graf aus eigener Machtvollkommenheit Juden vergleitet, was ein Regal des bischöflichen Landesherrn zu Münster war. Juden durften sich früher nur mit ausdrücklicher Genehmigung (Geleit) des Landesherrn im Fürstentum Münster aufhalten. Diese Berechtigung mussten sich die Juden jährlich erkaufen. Die Regierung in Münster ließ in Borken nicht von ihr vergleitete Juden aufgreifen und verurteilen. Dagegen protestierte der Graf Merveldt, weil er der Ansicht war, das Judengeleit stehe ihm zu. So kam auch dieser Rechtsstreit vor das Reichskammergericht. Der Kaiser ordnete an, dass „die Juden als zur Sache selbst unschuldig in Freiheit gesetzt“ werden sollten. Über eine weitere Entscheidung ist allerdings nichts bekannt. Doch untersagte die fürstbischöfliche Regierung in Münster das Lembecker Judengeleit wiederholt mit der Bemerkung, dass den Herren von Lembeck bereits 1681 und 1683 das Judengeleit bei 100 Goldgulden Strafe verboten worden war. Allerdings störte das den Grafen von Merveldt nicht, denn er vergleitete Juden nach wie vor.


Literatur:
Prof. Dr. Erika Timm „Zwei neu aufgefundene jüd. Briefe von 1602 und ihre Bedeutung für die Sozial- und Sprachgeschichte“ in „Aschkenas. Zeitschr. für Geschichte und Kultur der Juden“, 4/1994, S. 449-468. – Brunn’sche Chronik der Herrlichkeit Lembeck bis 1880, hg. vom Heimatverein Wulfen 1988. – Wolf Stegemann „Wie sich Matthias von Westerholt 1602 über das Recht hinwegsetzte und zwei unschuldige Juden einsperrte“ in „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“, Dorsten 1989.

Share on FacebookTweet about this on TwitterShare on Google+Email this to someone