Auch im Kirchenkreis Recklinghausen gab es vielfach sexualisierte Gewalt
Nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie reagierten Verantwortliche des evangelischen Kirchenkreises Recklinghausen und der Diakonie bestürzt – und sahen Handlungsbedarf. Dr. Dietmar Kehlbreier: „Wir haben in der Kirche und Diakonie versagt – gegenüber Menschen, die sich uns anvertraut haben“, bekennt der Geschäftsführer der Diakonie im evangelischen Kirchenkreis Recklinghausen mit Blick auf die Forum-Studie, die jetzt zahlreiche Fälle sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche aufgezeigt hat. „Es ist uns in unserer Kirche über Jahrzehnte nicht gelungen, die Menschen immer zu schützen“, bestätigt Saskia Karpenstein. Die Superintendentin des Kirchenkreises sagt, dass sie beim Thema Missbrauch nicht mit einer weißen Weste der evangelischen Kirche gerechnet hat, „aber dennoch machen die Ergebnisse der Studie mich fassungslos.“
Mindestens 2225 Betroffene und 1259 Beschuldigte – so das Ergebnis der Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie für die letzten Jahrzehnte. Dies sei jedoch nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“. Auch im Gebiet des evangelischen Kirchenkreises Recklinghausen kam es zu sexualisierter Gewalt. Dietmar Kehlbreier berichtet von zwei ihm bekannten Fällen in der Diakonie des Kirchenkreises Recklinghausen in den letzten 20 Jahren – aus den Bereichen Jugendhilfe und Behindertenwerkstätten. „Es gab Distanzprobleme von Mitarbeitern gegenüber Klienten, es wurden Avancen gegenüber Schutzbefohlenen gemacht, bei denen sexualisierte Sprache im Spiel war“, skizziert Kehlbreier nur grob – aus Rücksicht auf die Betroffenen und ihre Anonymität. Beide Fälle seien angezeigt und die Verfahren von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. „Aber es kam zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen – in einem Fall zu einer Versetzung, im anderen zur Kündigung.“
„Die Kirche ist für viele Betroffene nicht der richtige Ansprechpartner“
Saskia Karpenstein geht mit Blick auf die Studien-Ergebnisse davon aus, dass es auch innerhalb der verfassten Kirche im Kirchenkreis Recklinghausen Fälle sexualisierter Gewalt gegeben hat oder gibt, „aber es hat sich niemand gemeldet, wir haben von keinen Fällen Kenntnis“, sagt die Superintendentin. „Natürlich kann ich nachvollziehen, wenn Betroffene nicht darüber reden möchten. Aber man kann sich gerne melden, wir sind gesprächsbereit.“ Dabei glaubt Saskia Karpenstein auch, dass die Schilderungen von Betroffenen-Perspektiven hilfreich für zukünftige Schutzmaßnahmen wären. Doch auch wenn der evangelische Kirchenkreis und die Diakonie des Kreises auf ihren Homepages Kontakt- und Hilfsmöglichkeiten anbieten, liegt hier für Betroffene ein sehr nachvollziehbares Problem: Dietmar Kehlbreier weist darauf hin, dass die Kirche für viele Betroffene gerade nicht der richtige Ansprechpartner ist: „Natürlich gibt es bei vielen fehlendes Vertrauen in die Aufarbeitung durch das System, in dem die sexualisierte Gewalt geschehen ist.“ Deshalb fordert Kehlbreier eine „unabhängige staatliche Ombuds-Meldestelle, die auch juristische Beratungen übernimmt – die fehlt bislang.“
Auch für Täterstrategien würden die Mitarbeiter sensibilisiert
Frank Knüfken betont in diesem Zusammenhang, dass glaubwürdige Aufarbeitung des Themas Missbrauch durch die evangelische Kirche notwendig sei – „glaubwürdig für die Menschen, die viel Leid erfahren haben“. Hier spricht der Präventionsbeauftragte des Kirchenkreises von einer „großen Herausforderung“, verweist zugleich auf bereits bestehende Bemühungen des Kirchenkreises: Auf ein Schutzkonzept, die Schulung von Mitarbeitern, bei denen für das Thema sensibilisiert werde. Die Themenpalette reiche hier von Beratungsmöglichkeiten für Mitarbeiter bei einem Missbrauchs-Verdacht bis zum Thema Nähe-Distanz. „Dabei geht es zum Beispiel anhand von Beispielen oder Rollenspielen darum, Grenzen zu erkennen, grenzwahrenden Umgang einzuhalten.“ Auch für Täterstrategien würden die Mitarbeiter sensibilisiert. „Wir machen das auf allen Ebenen, zum Beispiel bei der Jugendarbeit, den Haupt- und auch Ehrenamtlichen“, fügt Saskia Karpenstein hinzu. Auch Dietmar Kehlbreier spricht von bestehenden Präventionskonzepten – und von der Notwendigkeit zu differenzieren: „Wir haben alle Gewaltformen im Blick und auch die verschiedenen Arbeitsbereiche, von der Jugendhilfe bis zur Pflege im Altenheim.“ Dabei seien körpernahe Tätigkeiten besonders sensible Bereiche.
„Wir müssen das Thema immer im Blick haben“
„Wir haben hier in den letzten Jahren dazugelernt, sind inzwischen von den Mechanismen, wie zum Beispiel dem Vier-Augen-Prinzip, gut aufgestellt“, meint der Diakonie-Chef. Auf der anderen Seite sieht Kehlbreier Verbesserungsbedarf, zum Beispiel müsse die Kirche Betroffene mehr partizipieren lassen: „Sie müssen bei der Bewältigung ihrer Fragen beteiligt werden.“ Saskia Karpenstein betont, dass die Arbeit nach der Studie weitergeht: „Es wird keine Kirche geben ohne Schutz und Prävention“, sagt sie mit Blick auf bestehende Abhängigkeiten und Nähe-Situationen im kirchlichen Bereich. „Wir müssen das Thema immer im Blick haben.“
Siehe auch: Missbrauch (Artikelübersicht)
Siehe auch: Missbrauch / Ev. Kirchengemeinde
Siehe auch: Missbrauch / Pfr. Michael Kenkel
Siehe auch: Missbrauch / Ev. Kirche bundesweit
Siehe auch: Missbrauch und Kirche
Siehe auch: Missbrauchstudie NRW 2021
Siehe auch: Missbrauch-Untersuchung 2023
Quelle: Thomas Schönert in RN vom 1. Febr. 2024