Landeserziehungsheim Kreskenhof

Fürsorgeerziehung für den industriell geprägten Arbeitsmarkt

Der Versuch des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) in den 1950er-Jahren in den ehemaligen Gebäudeanlagen Maria Lindenhof wieder ein Landeserziehungsheim einzurichten, wo es schon mal gewesen war, scheiterte. Denn durch die Lage „am nördlichen Rand des Ruhrgebiets“ sollte ein Ausbildungsort „in der eisenschaffenden und eisenverarbeitenden Industrie“ ermöglicht werden (LWL-Tätigkeitsbericht 1956-60). Damit trug der LWL der bereits 1920 erhobenen Forderung Rechnung, Fürsorgeerziehung am industriell geprägten Arbeitsmarkt zu orientieren. Da Dorsten scheiterte, wurden die Arbeits-Anstalten Benninghausen und Maria Veen weiterhin mit „normalen“ Fürsorgezöglingen belegt. 1958 wurde Maria Veen aufgelöst und die 50 Jugendlichen von dort nach Benninghausen gebracht. Das erhöhte die Spannung im sowieso schon problembehafteten Arbeitshaus Benninghausen. Dorsten-Holsterhausen bot die Lösung zur Entspannung der Situation.

Landeserziehungsheim 1965

Landeserziehungsheim 1965

Auf dem Areal Kreskenhof wurde im Herbst 1965 ein Neubau erstellt, so dass sich die Verhältnisse in Benninghausen durch Belegung des Dorstener Heims verbesserten. Moderne Zimmer (keine Schlafsäle mehr), Unterricht, Theaterspiel und Chorprojekte, auch eine heimeigene Beatband sowie eine eigene Küche wurden eingerichtet. Die Jugendlichen besuchten die Schulen in Dorsten und hatten die Möglichkeit, in Werkstätten auf dem Heimgelände zu lernen. Nach Fertigstellung eines Anbaus konnten 70 Jugendliche, darunter auch Mädchen, untergebracht werden. Durch eine immer kritischer werdende Sichtweise auf die praktizierten Fürsorge-„Erziehungskampagnen“ und die Etablierung der „Jugendhilfe“ sank die Zahl der so genannten Fürsorgezöglinge zwischen 1965 und 1975 von 4.000 auf 900. Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz verschwand 1990 das inzwischen zur Bedeutungslosigkeit geschrumpfte Instrumentarium der Fürsorgeerziehung, die um das Jahr 1900 große Erwartungen an dieses Gesellschaftsexperiment weckte und so ein unspektakuläres Ende fand.

Himmlers Erlass von 1943 galt noch in der Bundesrepublik

Schon 1938 eröffnete der Provinzialverband ein Aufnahmeheim in den Gebäuden von Maria Lindenhof, um sämtliche Fürsorgezöglinge aus Westfalen in Westfalen in Dorsten unter erbbiologischen, geistigen und charakterlichen Gesichtspunkten zu erfassen und zu bewerten. Nach Kriegsbeginn wurde dieses Heim geschlossen, um es als Lazarett zu verwenden. In Benninghausen unterhielt der Provinzialverband ein Arbeitshaus, das der Verband im Sommer 1945 von den Amerikanern zurückerhielt, um Benninghausen mit dem Arbeitslager Maria Veen zusammenzulegen. Arbeitshäuser waren eine Instrument, die aufgrund des 1943 von SS-Reichsführer Heinrich Himmler erlassenen Befehls geschaffen wurde, um vagabundierende Jugendliche einer „Arbeitserziehung“ in Westfalen zu unterwerfen. Der Inhalt dieses Himmler-Erlasses wurde von den Behörden in der Bundesrepublik anfangs beibehalten. Das belegt auch die Gründe, warum Jugendliche der Erziehung in der Familie entzogen und in kirchliche oder staatliche Heime eingewiesen wurden, wie in das Landeserziehungsheim Kreskenhof: Die Anlässe dazu sind aufgelistet: Stehlen 37,2 Prozent, geschlechtliche Ausschweifung 23,2 Prozent, Arbeitsbummelei 26,2 Prozent, Herumtreiberei 45,6 Prozent, Lügen 23,6 Prozent, Unsauberkeit 16,2 Prozent und Polizeiauffällig geworden 21,9 Prozent. Der prozentuale Anteil der Mädchen war bedeutend höher, manchmal doppelt oder dreimal so hoch. Verschwiegen werden darf aber nicht, dass 14 Prozent aller Jugendlichen im Umfeld der Familie misshandelt und 9 Prozent sexuell missbraucht worden waren (Mädchen 80 Prozent, davon 21 Prozent in der Familie), was zur Folge die sofortige Herausnahme aus den Familien nach sich zog. Etwa Zweidrittel der Kreskenhof-Jugendlichen stammte aus dem Arbeitermilieu, 20 Prozent von ihnen gaben als Beruf des Vaters „Bergmann“ an. Nur 2 Prozent stammten aus bürgerlichen Familien.

Ohrfeigen und Prügelstrafen trotz ministeriellen Verbots

Thema bereits 1932

Thema bereits 1932

Trotz der verbesserten Rahmenbedingungen und neuen pädagogischen Möglichkeiten, standen Probleme mit der Disziplin weiterhin im Vordergrund. Grund war auch, dass der Heimleiter des verrufenen Arbeitshauses Benninghausen, Heinz Stoltz, nach Auflösung von Benninghausen bis Ende der 1970er-Jahre in Dorsten tätig gewesen war. Obwohl der NRW-Sozialminister bereits 1947 und 1950 zwei Erlasse herausgegeben hatte, in denen er die körperliche Züchtigung von Mädchen und Jungen jeden Alters in den Heimen untersagte, wurde Prügelstrafe im Kreskenhof – wie in der damaligen Gesellschaft auch – weitgehend noch akzeptiert. Zumindest bis Anfang der 1970er-Jahre gab es im Kreskenhof noch Ohrfeigen und Stockschläge. Dazu der frühere Erziehungsleiter und stellvertretende Heimleiter des Landeserziehungsheims Kreskenhof Göhlich am 18. Dezember 2012: „Die Erziehungsmethoden bis weit in die 60er-Jahre waren durchaus nicht immer gewaltfrei, aber nicht nur in der Heimerziehung, sondern auch in allen pädagogischen Institutionen und Familien.“ Allerdings widerspricht er sich selbst im nächsten Satz, wenn er schreibt: „Sie (der Verfasser) sagen aus, dass sich „niemand“ nach dem Ministererlass an das Prügelverbot gehalten hat. Das ist im höchsten Maße unwahr. Die Heimerziehung unterlag immer schon der Kontrolle der oberen Jugendbehörden.“ Wegen der Zustände im Landeserziehungsheim Kreskenhof kam es 1972 zu einer Demonstration und zu einer versuchten Heimbesetzung durch die „Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln“ (SSK), um die Zustände im Dorstener Heim anzuprangern.

Thomas Bornmann: „Es waren meine schlimmsten Jahre“

............Bornemann, als Junge im LWL-Erziehungsheim Kreskenhof in Holsterhausen; Foto: DZ

Th. Bornemann; Foto: M. Klein

1971/72 war der Dortmunder Thomas Bornmann als 15- bzw. 16-Jähriger im Landeserziehungsheim Kreskenhof. Gegenüber der „Dorstener Zeitung“ schilderte er seine Erinnerungen (DZ vom 21. Januar 2011). „Das waren meine schlimmsten Jahre. […] Dieses geschlossene Heim, dieses völlige Weggesperrtsein, das hat sich in meine Seele eingebrannt.“ Raus kam er aus dem Kreskenhof-Heim, in dem es Hiebe setzte, wenn er nicht spurte, nur, um zu arbeiten. „Wir wurden damals an die Hähnchenfabrik Dr. Koch verscherbelt“, sagt Thomas Bornmann. „Acht Stunden harte Arbeit am Fließband und dafür bekamen wir am Ende des Tages eine Mark.“ Der Pflegesatz für einen Fürsorgezögling betrug damals täglich 2,52 DM. In den 1970er-Jahren wurde das Einkommen des Heims täglich und pro arbeitenden Jugendlichen auf 10-15 DM erhöht. Diese Summe hatten die Arbeitgeber dem Heim zu zahlen. Der Jugendliche bekam davon, wie Thomas Bornmann sagte, gerade 1 Mark. Dazu der ehemalige stellvertretende Heimleiter Göhlich: „Die Einrichtung in Dorsten galt bei den Jugendämtern als besonders fortschrittlich, weil die Jugendlichen reelles Geld und kein Heimgeld erhielten, sondern nach einem Punktesystem gratifiziert wurden.“

Heimleiter versprach bei ernsthafter Auseinandersetzung Transparenz

Gruppenspiele

Gruppenspiele der Heiminsassen

Mit dem neuen Heimleiter Gerrit Homanner, der Heinz Stoltz ablöste, verbesserte sich die Situation der Verwaltung zunehmend. In seiner Antrittsrede sagte er, dass er einen Beirat schaffen wolle, der nicht aus Honoratioren bestehen solle, der das Heim gegen Angriffe verteidige, sondern er wünsche sich „Verwalter im Interesse der Jugendlichen“. Sie sollten keine „Hilfstruppen“ sein, sondern „Kritiker“. Auch wollte er, dass die Jungen nicht mehr von den Mädchen strikt getrennt werden, denn: „Ein Junge mit Freundin sei bedeutend weniger gefährdet!“ Auch versprach er mehr Öffnung durch Information: „Wir müssen unser Handeln in der Öffentlichkeit transparent machen!“ Allerdings, so Homanner, habe die Öffentlichkeit nur dann ein Recht auf Einblick, wenn sie bereit sei, sich mit dem Heim auseinanderzusetzen.

Holsterhausener Pfarrer gaben Religionsunterricht

Konfirmantengruppe 1978 mit Pfarrer Rienäcker (Holsterhausen)

Konfirmantengruppe 1978 mit Pfarrer Rienäcker (

Für die katholische Seelsorge war der Pfarrer von St. Antonius zuständig, die evangelische besorgte der Pfarrer der Martin-Luther-Gemeinde in Holsterhausen. Pfarrer Wolf-Dieter Rienäcker schrieb über seine Arbeit als Holsterhausener Pfarrer auch über die im Landeserziehungsheim kurz und aufschlussreich in „Holsterhausener Geschichten“, Bd. 2:

„Und da war auch das Landeserziehungsheim am Kreskenhof – das spätere Landesjugendheim. Viermal in der Woche gab es hier Unterricht und samstags Gottesdienst (teilweise im Wechsel mit Pfarrer Schneider oder Pfarrerin Dürkkop). Die Heimleitung hatte sich an die Landeskirche gewandt und diese Regelung verabredet. Bis zum Jahr 1982 habe ich diese Aufgabe, trotz mancher Schwierigkeiten, durchgehalten – mit zusätzlichem Konfirmandenunterricht und Konfirmationen.“

Kritik im Vorfeld eines Rückblicks auf die Geschichte des Kreskenhofs

Kinderspiele im Erziehungsheim

Spiele im Erziehungsheim

In den letzten Jahren hatte sich die Situation für die Jugendlichen im Kreskenhof allgemein gebessert, wie sich auch die gesamte Jugendarbeit gebessert hatte. Allerdings blieb das schlechte Image erhalten, welches das Landeserziehungsheim in Holsterhausen und in der Stadt Dorsten hatte. Siegbert K. (71) aus Holsterhausen: „Immer wieder waren wir Jugendlichen aus dem Kreskenhof ausgesetzt. Das war im Ort Gesprächsthema. Als das Erziehungsheim schloss, atmeten etliche erleichtert auf!“ Hier ist dies nur eine einzelne Meinung, will man aber mehr wissen, wird bedeutungsvoll geschwiegen. Als in einem Gespräch des Verfassers mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Kreskenhofs dieser von einer Vergewaltigung sprach, und der Verfasser zu diesem Vorfall nachfragte, wurde geschwiegen. Schade eigentlich, denn es ist an der Zeit, darüber zu reden, aufzuarbeiten, zu reflektieren. Die ehemaligen Kreskenhof-Jugendlichen machen das bereits in einem Internet-Blog.
In der Weihnachtsausgabe des Pfarrbriefs der Holsterhausener Martin-Luther-Kirche KONTAKT (2012) hatte der Verfasser einen kurzen Auszug dieses hier viel längeren Artikels veröffentlicht, in dem die Zustände kurz geschildert waren. Ehemalige sozial-pädagogische Mitarbeiter des Landeserziehungsheims, heute schon lange im Ruhestand, drohten dem Verfasser mit rechtlicher Klage und bezichtigten ihn der „nicht wahrheitsgemäßen“ und „beleidigenden“ Berichterstattung. Allerdings blieben sie Angaben hierzu schuldig, so dass der Verfasser nicht erfahren hat, was konkret beleidigend und unwahr geschrieben wurde.

Land NRW übernahm das Areal

Nach Auflösung des Heims im Jahre 1994 blieben Areal und Gebäude bis 1999 ungenutzt. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) zog als Grundeigentümer ab 1995 in Betracht, in dem Gelände des aufgelösten Jugendheims an der Peripherie von Holsterhausen eine Forensik für Straftäter einzurichten, was in der Bevölkerung zu lauten Protestaktionen und Bildung einer Bürgerinitiative führte, die lautstark und nicht immer fair sowie nach dem Motto „Heiliger Sr. Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!“ gegen das Vorhaben protestierte. Landesregierung und Landschaftsverband gaben inoffiziell den Plan auf, so dass der damalige Bürgermeister Friedhelm Fragemann (SPD) verkünden konnte, dass es keine Forensik in Holsterhausen geben würde. Tatsächlich zog das Land NRW ein Jahr später den möglichen Holsterhausener Standort für die Forensik zurück. 2003 löste sich die Bürgerinitiative auf und überließ ihre angesammelte „Kriegskasse“ den Vereinen „Lebenshilfe Dorsten“ und „Weißer Ring“.

Heute ist das Areal eine Siedlung zum Wohnen im Grünen

Heute Wohnbebauung; Foto: Wolf Stegemann

Heute Wohnbebauung; Foto: Wolf Stegemann

Das Land NRW verkaufte das Gelände 1999 an einen privaten Investor. Norbert Hürland von „Wohnen im Park“ konnte in der zweiten Hälfte des Jahres 2000 unter Beteiligung von Vertretern der Stadt den ersten Spatenstich für die neue Siedlung, ein 100-Millionen-Projekt, tätigen. Auf einem 120.000 Quadratmeter großen Areal entstanden rund 220 Häuser. Rund 100 Millionen Mark soll Norbert Hürland in das Großprojekt gesteckt haben. Bürgermeister Lambert Lütkenhorst sagte beim Spatenstich für den Wohnpark Kreskenhof: „Der Stadtteil Holsterhausen wird um tausend Bürger wachsen.“ Dieser „erste Spatenstich“ war immer wieder durch römische Funde und Ausgrabungen verzögert worden. Dadurch drohte das Projekt bereits zu platzen, bevor es begonnen hatte. Nur durch eine finanzielle Beteiligung des Landschaftsverbandes konnte der Ausstieg des Investors verhindert werden. Auf dem 120.000 qm großen Gelände entstanden 220 Häuser und 100 Mietwohnungen, die in verschiedenen Abschnitten bis spätestens 2005 bezogen wurden.

Am Rande mitgeteilt: 1998, als das weitläufige Gelände noch dem Land gehörte, warteten dort acht Transporthubschrauber des Bundesgrenzschutzes auf ihren Einsatz zur Sicherung des Castor-Brennstab-Transports.

Zu Sache: Im statistischen Strichjahr 1971 fristeten 37.545 Bundesbürger unter 20 Jahren ihr Leben als Fürsorgezöglinge: 15.091 kamen durch Beschluss eines Vormundschafts- oder eines Jugendrichters in „FE“, wie abgekürzt „Fürsorgeerziehung“ genannt wurde (Voraussetzung war: Verwahrlosung oder drohende Verwahrlosung); 22.454 erhielten „FEH“, wie die „Freiwillige Erziehungshilfe“ hieß. Freiwillig deshalb, weil ihre Einweisung ins Heim auf Antrag der Eltern zustande kam (Voraussetzung war: Gefährdung oder Schädigung der Entwicklung).
Die Vereinbarung Freiwilliger Erziehungshilfe bedeutet ebenso wie die Anordnung der Fürsorgeerziehung, dass die Zöglinge entweder bei Pflegefamilien und – unter Aufsicht von Fürsorgern – am Lehr- wie Arbeitsplatz oder aber in Heimen betreut wurden. Mehr als 22.000 Fürsorgezöglinge waren in (rund 750) Erziehungsheimen untergebracht. Es waren diejenigen, die im Fürsorge-Jargon „Schwererziehbare“ und „Schwersterziehbare“ hießen. Insbesondere ihnen sollte zuteil geworden sein, worauf jedes bundesdeutsche Kind einen Rechtsanspruch hatte und hat: Erziehung zu leiblicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit. Eben diese zu vollbringen, dazu war die Fürsorgeerziehung in der Bundesrepublik nicht imstande.

Siehe auch: Walter Göhlich


Quellen/Literatur:
Markus Köster/Thomas Küster „Zwischen Disziplinierung und Integration“, Forschungen zur Regionalgeschichte Bd. 31, LWL 1999. – „Heimkinder und Heimerziehung in Westfalen 1945-1980“; Bearbeiter: Matthias Fröhlich, LWL-Institut Münster, o. J. – LWL-Buch „Augustinische Marschlager und Siedlungen des 1. bis 9. Jahrhunderts in Holsterhausen“ vor. Es ist der 47. Band der Reihe „Bodenaltertümer Westfalens”. – Schreiben Ex-Erziehungsleiter Göhlich an den Verfasser vom 18. Dezember 2012.

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