Landesaufnahmeheim

Schwierige Jugendliche wurden der „Minderwertigen“-Fürsorge unterstellt

Nachdem die Barmherzigen Brüder von Montabaur wegen Auflösung ihrer Krankenanstalten für Epileptiker aus „Maria Lindenhof“ vertrieben worden waren, übernahm die Provinz Westfalen (heute Landschaftsverband Westfalen-Lippe) den Gebäudekomplex und richtete 1937 das Landesaufnahmeheim für verwahrloste Kinder und Jugendliche ein. Für die meisten der eingewiesenen Kinder war Dorsten eine Durchgangsstation vor der Verlegung in andere Heime. Die kleineren Kinder gingen in den hauseigenen Kindergarten, die Schulkinder besuchten die Volksschule oder die Berufsschule, andere arbeiteten in der Gärtnerei, Landwirtschaft, Küche oder in den hauseigenen Werkstätten (Schuhmacherei, Schlosserei, Schneiderei). Leiter des Landesaufnahmeheims war Dr. Werneke. 1940 mussten die Fürsorgezöglinge einem Reservelazarett der Wehrmacht weichen. Sie wurden in andere Heime verlegt (siehe Landeserziehungsheim).

Das frühere Refektorium der Barmherzigen Brüder - nun Speisesaal mit der Hakenkreuzfahne

Das frühere Refektorium der Barmherzigen Brüder – nun Speisesaal mit der Hakenkreuzfahne

Bewahrabteilungen und Jugendschutzlager

Im Dritten Reich wurden schwer erziehbare Jugendliche der „Minderwertigen-Fürsorge“ unterstellt. Von 1933 bis 1945 wurden allein in Westfalen 450 Fürsorgezöglinge zur Unfruchtbarmachung verurteilt. Andere wurden als „unerziehbar“ bzw. „gemeinschaftsunfähig“ in primitive „Bewahrabteilungen“ eingesperrt oder aber ab 1940 bzw. 1942 in polizeilich geführte KZ-ähnliche „Jugendschutzlager“ abgeschoben. Nach 1945 verschwand zwar der rassenhygienische Rahmen, der 1933 der Jugendfürsorge angelegt worden war, die sozialmoralischen und sozialdisziplinarischen Intentionen veränderten sich kaum, so dass 1947 die englische Besatzungsmacht massiv eingreifen musste.

Kind von Bibelforschern als „kriminell“ nach Dorsten verbracht

Ein Siebenjähriger lag mit schwerer Grippe auf der Couch. Doch das hinderte die beiden Männer vor der Türe nicht daran, den kleinen Paul-Gerhard Kusserow in Münster abzuholen. Mit Gerichtsbeschluss in der Hand zerrten der SA-Sturmführer und der begleitende Polizeibeamte den Jungen vom Krankenlager. Das Ziel des Transports: Ein Heim für „Kriminelle und Schwererziehbare“ in Dorsten. Dort sollen aus dem Jungen und seinen Geschwistern, die von der Schulbank verschleppt wurden, richtige Nationalsozialisten gemacht werden. Die Familie Kusserow gehörte der Glaubensgemeinschaft der Bibelforscher an, heute bekannt unter dem Namen Zeugen Jehovas. Familienmitglieder wurden in KZ oder in Gefängnisse verbracht, etliche ermordet, zum Tode verurteilt, andere verschleppt. Die Familie Kusserow erlitt die ganze Palette nationalsozialistischer Grausamkeit.
Der ins Dorstener Landeserziehungsheim verschleppte Paul-Gerhard Kusserow erhielt Jahrzehnte später einen Brief von dem Dorstener Beamten, der den Siebenjährigen damals in das Erziehungsheim gebracht hatte. Der Brief liest sich wie eine indirekte Bitte um Absolution. Schon damals habe er das Vorgehen verurteilt, gerade wegen des Kindes Krankheit. Er sei extra langsam gefahren, schreibt der Beamte. Er habe sich auch nicht beklagt, als der Junge auf seinen Ärmel erbrach, und bei der Schwester des Erziehungsheims habe er sogar ein gutes Wort für den Jungen eingelegt. Der pensionierte Verfasser bat Kusserow 1980, ihn doch zu besuchen (Entnommen aus Christiane Willsch„Geglaubt, gelitten und grausam gestorben“ in „12 Jahre, 12 Schicksale“, Heft 50/2006, Politische Bildung, NRW).

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