Kofferfabrik Lehmann

Ein Unternehmer mit tragischen Lebensbrüchen bis hin zum Freitod

Die letzten Reste der einstigen Fabriken am Beerenkamp sind bereits abgerissen

Von Wolf Stegemann – Im Stadtteil Feldmark befand sich in dem Gewerbegebiet „Auf dem Beerenkamp“ von 1955 bis 1968 die Kofferfabrik von Walter und Karl Lehmann – Vater und Sohn. Nach deren Konkurs wurden die Gebäude von der 1969 gegründeten Firma Mülle Indepot GmbH übernommen, die zwölf Beschäftigte hatte. Geschäftsführer war Paul Knobloch.

Die Tochter heute: „Kulisse des Wohlstands bildete ihr Lebenselixier“

Mit den Inhabern der früheren Kofferfabrik Walter und Karl Lehmann in Dorsten verbindet sich ein besonders tragisches Schicksal. Das Ehepaar Karl und Christa Lehmann hatten 1997 nach 43 Jahren Ehe in einem Kölner Hotel Suizid begangen. Ein Fön in der Sitzbadewanne löschte das Leben der beiden aus. Damit scheiterte auch ihr physisches Leben, nachdem so viele geschäftliche Existenzversuche gescheitert waren, auch die Kofferfabrik in Dorsten. Die Tochter Barbara Lehmann, die in Dorsten geboren wurde und bis zur Sexta das Mädchengymnasium der Ursulinen besuchte, meinte, dass für ihre Eltern der Schein immer wichtiger war als das Sein. Ihre Eltern kamen aus wohlhabenden großbürgerlichen Familien. „Die Kulisse des Wohlstands bildete ihr Lebenselixier.“ Durch die Trümmerkrater des Nachkriegsdeutschlands wurde Christa Lehmann chauffiert, als sie als junges Mädchen noch Adloff hieß. Als Frühwaise war sie Alleinerbin der Thüringer Gummifabrik C. A. Sie sollte später den Kofferfabrikanten Karl Lehmann heiraten.

Ausgestattet mit Sportwagen und großzügiger Apanage

“Lausitzer”-DDR-Koffer der 50er-Jahre aus der enteigneten ehem. Lehmann-Fabrik in Neukirch

Die Familie Lehmann hatte seit zwei Generationen bis Kriegsende in Sachsen eine Kofferfabrik. Ihr Unternehmerverständnis richtete sich nach Jean Pauls Spruch: „Reisen heißt Leben!“  Als im Nationalsozialismus die deutsche Arbeitsbevölkerung über die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ auf Ferienreisen ging, blühte das Koffergewerbe immens auf, so auch das Unternehmen Lehmann in Neukirch/Lausitz. Vier Jahre nach dem Krieg enteignete die DDR das Unternehmen. Karl Lehmann war gerade aus vierjähriger Kriegsgefangenschaft aus der Sowjetunion „impotent und krank“ heimgekehrt. Lehmann ging in das noch offene Westberlin. Die Millionenerbin Christa Adloff aus dem Thüringer Wald und Karl Lehmann verlobten sich. Karl Lehmanns Onkel Arthur Steglich, ein Millionär, hatte die Verbindung vermittelt. Danach studierte Karl Lehmann, von der Familie ausgestattet mit Sportwagen und großzügiger Apanage, in Krefeld Textilingenieurwesen, um die Gummiwerke seiner Frau in der DDR einmal zu übernehmen. Das gute Nachkriegsleben zerplatzte bald, als 1953 das DDR-Finanzministerium in Ost-Berlin eine Betriebsprüfung in den Adloff-Werken durchführte, und angebliche Verstöße gegen die Wirtschaftsgesetze der DDR fand. Das Finanzministerium drohte mit einer Durchsuchung durch die Wirtschaftskommission. Christa Adloff, die nun gewesene Millionenerbin, floh mit einem Koffer voll Familiensilber und Dokumenten über den Berliner Anhalter Bahnhof in den Westen. In Essen heirateten Karl Lehmann und Christa Adloff 1954, wo Karl Lehmann in die 19949 zunächst in Berlin, später in Essen von seinem Vater Walter Lehmann wiederbegründete Kofferfabrik als Teilhaber einstieg.

Fabrikation nach Dorsten verlegt und 1968 gescheitert

Typischer Lehmann-Koffer

Die Essener Fabrikationshallen waren wegen ihres schlechten Bauzustandes ein Provisorium. Daher verlegte Karl Lehmann die Kofferfabrik 1955 nach Dorsten. Im Gewerbegebiet Beerenkamp (Name vor 1951: Asphaltstraße) in der Feldmark wurden Grund und Hallen mit der damaligen Hausnummerierung 8-12 gleich neben der Dachpappenfabrik Dr. Kohl gepachtet. Die Koffer waren einfach konstruiert und fanden in den ersten Jahren noch Abnehmer in der ganzen Bundesrepublik, wie sich heute noch einer der Ausfahrer in Dorsten, Herbert Horstkamp, erinnert. Die Lehmanns wohnten zur Miete „in einem grünen Haus mit Vorgarten“ am Alten Postweg. Dort wurde die Tochter geboren. In den 1960er-Jahren ließ das Koffer-Geschäft nach und die Fabrik kam in finanzielle Schräglage. Einer der Gründe war sicher auch, dass die Subventionierung durch den reichen Verwandten Arthur Steglich weggefallen war. Zudem hing die ganze Familie mit Walter Lehmann und seinen drei Söhnen am Tropf des Unternehmens. Anfangs hatte Lehmanns Kofferfabrik noch über 100 Mitarbeiter, 1966 waren es noch 46 Beschäftigte. Da musste das Unternehmen schon mit einem Vergleich um seine Existenz kämpfen. 1968 kam dann das Ende. Die Produktion wurde eingestellt, die Walter und Karl Lehmann GmbH erlosch. Nicht aber der Name. Koffer aus der Lehmann-Produktion wurden übernommen, es gab eine Art Fusion Gebrüder Lehmann/Lohmann. Der Name blieb erhalten, zum Teil auch der alte Kundenstamm aus Dorstener Zeit. Die Familie verließ Dorsten, siedelte sich im Rheinland nahe Köln an. Der einstige Unternehmenschef arbeitete nun als Handelsvertreter für die einstige Konkurrenz und verkaufte in dem ihm zugewiesenen Verkaufsbezirk Koffer. Nach der deutsch-deutschen Wende bekam Christa Lehmann ihr früheres Wohnhaus und die stillgelegte Adloff-Fabrik in Thüringen auf 20.000 Quadratmetern und alten Ruinen zurück. Der Abriss der baufälligen Hallen und die Beseitigung der Altlasten sollten 1,2 Millionen Mark kosten, was die Familie ruinierte. Recherchen der Tochter Barbara Lehmann ergaben, dass die Gemeinde Tabarz sich in diesem Fall durch Aufbürdung von zweimal so hohen Erschließungskosten – als in benachbarten Gemeinden üblich – ungerechtfertigt bereicherte. Die Tochter Barbara Lehmann heute: „Meine Mutter sprach damals zu Recht von einer zweiten Enteignung.“ Auflagen und Schulden wuchsen, die Familie ging an der Rückübertragung bankrott. 1997 gingen Karl und Christa Lehmann, einst Fabrikbesitzer in Dorsten, in den Freitod.

Freitod der Eltern im Roman veröffentlicht

Barbara Lehmann vor der Familienwand

In ihrem autobiografischen Roman „Eine Liebe in Zeiten des Krieg“ beschreibt Barbara Lehmann als Romanfigur Doro den Freitod ihrer Eltern und versetzt ihn in das Wohnhaus:

„Traum: Beide stiegen aus dem Taxi. Mein Vater trug eine Reisetasche. Er folgte meiner Mutter, die den Schotterweg entlangging. Die Eichentür der weißen Villa öffnete sich wie von alleine. … Sie betraten den früheren Wintergarten und warfen einen letzten Blick ins Freie.  Früher, als mein Vater jung war, war die asphaltierte Fläche vor dem Fenster ein Garten gewesen, den in der Mitte ein Tulpenbaum, so weit wie der Himmel, einnahm. Jetzt im Asphaltspiegel. Sah der Himmel abgegriffen und leer aus, schäbig. Sie guckten sich an, lachten verschämt, legten die Kleidung ab, Stück für Stück. Er nahm den Föhn aus der Reisetasche, verband ihn mit einer Verlängerungsschnur, schloss ihn an den 220 Volt-Stecker neben dem Bett an und prüfte, ob er funktionierte. Unterdessen ließ meine Mutter die Sitzbadewanne einlaufen, mit kräftigem Strahl, sodass sie schnell gefüllt war. Sie hob den Fuß, quetschte sich in die kleine Wanne hinein. Er folgte ihr auch diesmal. Sie setzten sich einander gegenüber, ungelenk, weil irgendwie die Beine störten. Schauten einander an. Umarmten sich. Der Föhn fiel in die Wanne. Damals. Heute. Immer.“

Barbara Lehmann reflektiert über das Geschehene offen und schreibt auch über den Niedergang der Kofferfabrik in Dorsten. Das Versagen des Vaters lag wohl daran, so Barbara Lehmann heute, dass er an seinen Lebensbrüchen litt: vier Jahre russische Gefangenschaft lagen hinter ihm, die Vertreibung aus der Heimat, keinen Sinn für Geschäftsführung, fehlende Visionen und ein verschwenderisches Leben über alle Verhältnisse. Das führte schließlich nicht nur zum Zusammenbruch der Fabrik, sondern auch seines Lebens und dem seiner Frau, die ihr (verschwenderisches) Leben, das sie von klein auf gewohnt war, nicht aufgeben konnte.

Siehe auch: Barbara Lehmann
Siehe auch: Beerenkamp
Siehe auch: Dachpappenfabrik Dr. Kohl


Anmerkung: Dieser Artikel wird demnächst mit authentischerem Bildmaterial ausgestattet. – Quellen: Gespräche Wolf Stegemann mit Barbara Lehmann (2018). – Barbara Lehmann: „Erinnern: Jetzt haben sie es doch getan“ in „Die Zeit-Lebensart“ 36/2, 2004. – Barbara Lehmann „Eine Liebe in Zeiten des Krieges“, LangenMüller 2015. – Auskunft Lisa Bauckhorn, Pressestelle der Stadt Dorsten (2018). – „Dorsten – Wirtschaft und Leben“ 1976. – Christa Setzer, Stadtarchiv Dorsten.

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