Berger, Lehrer

Auf Gerüchte hin wurde er vom Pfarrer 1930 öffentlich gebrandmarkt

Von Wolf Stegemann – Mit einem anonymen Schreiben über seinen Kirchenchor-Dirigenten Berger fing an, was den Pfarrer Heming von St. Agatha über eine längere Zeit beschäftigte und nicht nur ihn sehr aufregte. Er bekam Anfang des Jahres 1930 die Nachricht, dass sein Chordirigent, der Lehrer Berger aus Feldhausen, ein Verhältnis mit einer Lehrerin aus Gladbeck habe, über das „ganz Feldhausen“ spräche. Heming warf das Schreiben zunächst in den Papierkorb, erkundigte sich aber dennoch bei Rektor Abel in Feldhausen über das Gerücht. Zwei Tage später erschien der besagte Lehrer Berger „ganz aufgeregt“ bei Pfarrer Heming in der Sakristei von St. Agatha und fragte den Pfarrer, ob er ihm das anonyme Schreiben zeigen könne. Heming erwiderte, dass er ein solches Schreiben erhalten habe – „wie man es gewöhnlich mit einem solchen Schreiben machte“ –, es zerrissen und in den Papierkorb geworfen hätte. Daraufhin verlangte Berger eine Sitzung des Gesamt-Kirchenchores, bei dem er sich rechtfertigen wollte. Ludwig Heming antwortete darauf, dass er es besser fände, wenn Berger mit einigen Vorstandsmitgliedern beim Vorsitzenden Buchholz zusammenkomme. Am Abend desselben Tages fand diese Zusammenkunft statt, an der einige Damen und Herren des Vorstandes teilnahmen.

Pfarrer Ludwig Heming chronologisierte detailfreudig

Ludwig Heming schildert den weiteren Verlauf dieser denkwürdigen Versammlung in der Chronik:

„Herr B. suchte sich zu rechtfertigen und warf mit so unflätigen gemeinen Redensarten um sich, dass ich die armen Damen bedauerte. Die Sitzung dauerte mehrere Stunden und regte alle Teilnehmer furchtbar auf. […] Anfangs waren wir von seiner Unschuld überzeugt; aber ein Schreiben von Rektor Abel belehrte mich eines Besseren.“

Nun trat Schulrat Johannes Brock in Erscheinung. Er verhörte den Lehrer Berger, der, so Heming, „immer wieder seine Unschuld beteuerte“. Danach kam die Skandalgeschichte vor den amtlichen Schiedsrichter und Heming seufzte, dass in dieser Sache „jede Woche Termine vor dem Schiedsrichter“ stattfänden, „wo sich verschiedene Bewohner aus Feldhausen, u. a. auch die Schwester und Nichte des Herrn Rektor Abel über Aussagen, die sie über den Fall B. gemacht hatten, verantworten mussten“. Demnach, so ist aus diesen Worten zu entnehmen, stellten sich juristisch üble Nachrede, Verleumdung und ähnliche Sachverhalte heraus. Die mit so viel öffentlichem Aufwand betriebene Untersuchung über das Gerücht, ob der Lehrer nun ein Verhältnis hatte oder nicht, führte zu der Klage Pfarrer Hemings, der die Untersuchung angestoßen hatte:

„Bald hatte sich das Gerücht über ganz Dorsten verbreitet, aber niemand mochte laut darüber sprechen, weil man fürchtete, vor den Schiedsrichter geladen zu werden.“ Und Heming erinnerte sich in seiner Chronik darüber, dass daraufhin eines Tages der Denunzierte zu ihm gekommen sei und ihn offen fragte, ob er, Heming, an seine Unschuld glaubte. Heming diplomatisch und nicht ganz offen: „Ich entgegnete ihm, ich glaubte nur solange daran, bis mir das Gegenteil bewiesen würde.“

An moralische Verfehlung geglaubt

Diese ausweichende Antwort war wohl dem Umstand geschuldet, das Heming an die moralische Verfehlung Bergers glaubte, ihn sogar vorverurteilte und ihm unlautere Motive in seinem kirchlichen Handeln als Chordirigent unterstellte, denn er schrieb:

„Es war für mich eine furchtbare Qual, wenn ich B. an den Sonntagen in der Kirche amtieren sah, weil ich wusste, wie genau die Gläubigen über ihn unterrichtet waren. Nun war mir auch klar geworden, warum er so gerne das Jubiläum des Kirchenchors feiern wollte und sich so sehr dafür einsetzte, ja sogar eine Vereinsfahne wünschte, die an dem Jubeltage geweiht werden sollte. Er verfolgte dabei die Absicht, sich bei der Dorstener Bevölkerung und beim Chore beliebt zu machen. Es ist mir Gott sei Dank gelungen, die Feier des Jubiläums zu verhindern.“

Heming verbot schlichtweg die Jubiläumsfeier, was er dem Vorsitzende Karl Buchholz mitteilte mit der Aufforderung, er möge dies dem Dirigenten Berger und dem Kirchenchor weitergeben. Somit hatte der Pfarrer öffentliche Sanktionen gegen Berger in Gang gesetzt, dessen tatsächliche moralische Schuld und die Tatsache, ob er nun ein Verhältnis hatte oder nicht, nur Glaubenssache geblieben war. Die Kollektivstrafe dem Chor gegenüber, wegen seines Dirigenten sein Jubiläum nicht entsprechend feiern zu dürfen, dürfte – betrachtet man den bisherigen Verlauf dieser Geschichte – Auswirkungen gehabt haben, denn im August wurde das Gerücht zur unendlichen Geschichte. Lehrer Berger wehrte sich vor Gericht.

Lehrer Berger wehrte sich mit einer Klage vor Gericht

Pfarrer Heming befand sich gerade zur Erholung in Wildbad Kreuth, als ihn ein Brief von Schulrat Johannes Brock erreichte, der ihm die Abschrift eines Urteils in der nunmehr zur „Prozesssache“ angewachsenen Denunziation mitschickte. Berger hatte nämlich gegen „Rektor Abel und Genossen“ (Originalton Heming) Klage eingereicht. Pfarrer Ludwig Heming war erschüttert, denn aus seiner Sicht ging aus den Zeugenaussagen klar hervor, „dass Lehrer B. ein unerlaubtes Verhältnis mit der Lehrerin unterhalten hatte und noch unterhält“. Welche Glaubwürdigkeit das Gericht den Zeugenaussagen beigemessen hatte, ist nicht bekannt. Denn  die Beklagten, Rektor Abel u. a. wurden wegen Verleumdung und Rufschädigung  zu jeweils 300 Mark verurteilt. Das versetzte Heming, der seine Meinung über die Sittenwidrigkeit seines Chordirigenten mehrfach festgelegt hatte, in ungläubiges Staunen und brachte ihn zur Klage: „So stand Berger gewissermaßen gerechtfertigt da.“
Warum Lehrer Berger Revision gegen das für ihn vorteilhaft erscheinende Urteil einlegte, ist nicht bekannt. Entweder hatte er eine aufgestaute innere Wut auf die Denunzianten und deren Umfeld, dass ihm 300 Mark zu wenig erschienen, oder ihm war seine „Freisprechung“ nicht eindeutig genug. Aber auch Rektor Abel und die anderen Beklagten legten Revision ein. Über den weiteren juristischen Gang der Revision ist allerdings nichts bekannt.

Lehrer standen größtenteils auf Seiten Bergers

Als Pfarrer Heming von seiner Kur nach Dorsten zurückgekehrt war, „hörte“ er das Gerücht, so Heming, dass „Lehrer Berger das Verhältnis mit der Lehrerin noch immer unterhielt“. Folglich schrieb Heming seinem Chordirigenten einen Brief:

„Nach meiner Rückkehr höre ich, dass Sie das Verhältnis mit Frl. [Name durch Punkte ersetzt] immer noch unterhalten, obschon Sie dadurch großes Ärgernis in der Gemeinde erregen. Nunmehr fordere ich als Ihr Pfarrer und Seelsorger Sie auf, endgültig das Verhältnis aufzugeben, andernfalls sehe ich mich gezwungen, Sie von Ihrem Posten als Chordirigent zu entbinden.“

Der Adressat antwortete Heming mit einem Brief, den dieser als „saugrob“ bezeichnete. Denn Berger machte auf die Doppelbödigkeit der kirchlichen Moral aufmerksam, indem er „gegen einen gewissen Geistlichen furchtbare Anklagen erhob und mit Veröffentlichung drohte“, so Heming in der Agatha-Chronik. Berger, der diesen Brief an Pfarrer Heming aus seinem Urlaubsort im Schwarzwald schrieb,  gab seiner Drohung Nachdruck, indem er ihn mit dem Satz beendete: „Soeben wird hier ein Geistlicher wegen eines Sittlichkeitsverbrechens abgeführt:“ Dies mochte Heming so nicht stehen lassen, denn postwendend antwortete er Berger: „Nach Kenntnisnahme Ihres Briefes enthebe ich Sie nun endgültig Ihres Amtes als Dirigent unseres St. Cäcilienchores.“ Somit war für Pfarrer Heming der „Fall Berger“ beendet. In seine Chronik schrieb er:

„Daraufhin bekam ich wieder einen groben, in höhnischem Ton gehaltenen Brief, den ich natürlich nicht beantwortete. Damit war die Sache vorläufig beendet. Natürlich wurde viel unter Lehrpersonen in der Stadt darüber gesprochen. Die Lehrer standen zum größten Teil auf Seiten Bergers.“

Mitglieder, die Aufklärung verlangten, waren die „Krakeler“

Damit war der „Fall Berger“ aber noch nicht erledigt. Der Chor hatte nun keinen Dirigenten mehr. Behelfsmäßig übernahmen die „Damen der Choral-Abteilung und einige junge Sänger des früheren Kirchenchors mit Unterstützung des notenfesten Küsters den Choralgesang an Sonn- und Feiertagen“. Ansonsten trat der Kirchenchor kaum noch in Erscheinung. Pfarrer Heming unterschied fortan in seinen Aufzeichnungen zwischen dem alten Chor und dem Chor, den er als neuen Chor wieder aufleben lassen wollte. Die Dirigentenfrage hielt er als die schwierigste. Aus der Zahl der Aspiranten wählt er den Lehrer Geppert aus Holsterhausen, der am Jahnplatz in Dorsten wohnte, da die Erkundigungen über ihn gut ausgefallen waren.
Am 25. Dezember trafen sich sämtliche Chormitglieder in der Wirtschaft „Eintracht“ und Heming stellte seinen neuen Dirigenten vor. Einige Chormitglieder waren mit dem Dirigentenwechsel nicht einverstanden und verlangten von Pfarrer Heming Aufklärung über die immer noch schwelende „Sache Berger“, da dieser doch ein guter Dirigent gewesen war und die Bestellung eines neuen nicht notwendig sei. Der Vorsitzende des Kirchenchors, Karl Buchholz, erklärte daraufhin:

„Über diese Sache können wir hier öffentlich vor dem Chore nicht sprechen. Jeder, der sich genauere Informierung über die Gründe der Entlassung des Herrn Berger verschaffen wolle, könne Einsicht in die Akten, die in der Pastorat auflägen, nehmen.“

Heming stufte in seiner Chronik diejenigen, die Aufklärung wollten, als „Krakeler“ ein und schreibt: „Keiner ist zu mir gekommen. Aber die Krakeler blieben in Zukunft fern.“ Damit endet der „Fall Berger“ in der Chronik St. Agatha. Lediglich als Marginalie taucht Berger drei Jahre später noch einmal auf, als er 1933 nach Ennigerloh versetzt wurde, aber nach Dorsten an die Agathaschule versetzt werden wollte. Pfarrer Heming ließ es sich nicht nehmen, Berger, der einen Prozess in Berlin gewonnen hatte, und daher in Dorsten wieder angestellt werden sollte bzw. musste, diesen Umstand aus seiner unnachgiebigen Sicht zu bewerten:

„Dieser Umschwung des Prozesses hat wahrscheinlich darin seinen Grund, dass er zur rechten Zeit Anschluss an die NSDAP gefunden hatte. Seine Anstellung in Dorsten wurde verhindert durch Rechtsanwalt Spangemacher, der auf dem Bürgermeisteramt erklärte, dass er seine Kinder aus der Agathaschule nehmen würde, falls Berger, der doch bekanntlich ein Ehebrecher sei, dort angestellt würde.“

Wäre Johannes Spangemacher nicht eng verwandt mit dem NSDAP-Minister, hohen SA- und SS-Führer Heinrich Spangemacher, der häufig in Dorsten zu Besuch war, und die Dorstener Stadt- und Partei-Spitze ihn nicht hofierte und kameradschaftlich „Heinz“ nennen durften, hätte diese Drohung auf Bürgermeister Dr. Gronover (NSDAP) wohl kaum Eindruck gemacht.


Quelle: Chronik St. Agatha (unveröffentlicht).

Share on FacebookTweet about this on TwitterShare on Google+Email this to someone