Totenzettel

Damit die Seele in den Himmel fährt – alter Brauch und neue Sammelobjekte

Dorstener Sterbebildchen aus dem Jahre 1864 (Ausschnitt)

Von Wolf Stegemann – Der Holsterhausener Gregor Duve bewahrt das Andenken an die Verstorbenen seiner Verwandtschaft in einer hölzernen Zigarrenkiste auf. Das Andenken sind Totenzettel. Darunter findet man alle Namen, mit denen die Duves durch Heirat verwandt sind. Beim Durchblättern der kleinen Zettel entsteht der Eindruck, dass hier die Namen fast aller alten Holsterhausener Familien versammelt sind. Und in der Datenbank des Datensammlers Walter Biermann befinden sich ebenfalls mehrere hundert dieser Gedenkblätter. Was hat es auf sich mit den kleinen Zetteln christlicher Frömmigkeit? Sterbebildchen oder Totenzettel mit dem Porträt des Verstorbenen oder nur mit Textangaben und einem Kreuz zu drucken und sie an Freunde und Verwandte zu schicken, hat eine lange Tradition. Sie hat sich in der katholischen Frömmigkeit bis heute erhalten, obgleich der Ursprung dieses Brauchs als Informationsmitteilung im streng evangelischen Amsterdam liegt. Allerdings ist das Versenden von Totenzetteln nicht der einzige Brauch, eines Verstorbenen zu gedenken. Früher wurden im Sterbehaus die Uhren angehalten und erst wieder nach dem Begräbnis in Gang gebracht. Damit wurde sowohl Stillstand als auch Stille angezeigt, die der Tod mit sich bringt und die den äußeren Rahmen für die Trauer abgeben. Stille, um des Toten zu gedenken.

Früher dienten sie dazu, lediglich Nachricht zu geben über einen Todesfall

Bei den früheren Totenzetteln ging es in erster Linie darum, Nachricht zu geben über den Todesfall und den Verstorbenen. Im Mittelalter dienten dazu Sterbe- oder Gebetsbruderschaften, auch Todesangst-Christi-Bruderschaften genannt. Wer Mitglied war, konnte sicher sein, dass nach seinem Ableben die Bruderschaft das Totengedenken ausrichtete. Heute hat sich dieser Brauch in Nachbarschaftsgemeinschaften erhalten, wie es beispielsweise eine solche noch in Hervest gibt. Mit Messopfern und Gebeten erbaten die Todesangst-Christi-Bruderschaften, dass die Seele des Verstorbenen aus dem Fegefeuer hinaus in den Himmel aufgenommen werden möge.

Nach Deutschland schwappte der Bauch über Holland ins Westfälische

Mitbegründer von Maria Lindenhof

Der früheste Beleg eines Vorläufers des Totenzettels stammt aus dem Jahre 1493, als Kaiser Friedrich III. starb. Auf Zetteln, die an die Trauergäste verteilt wurden, pries man die frommen Werke des verstorbenen Kaisers und würdigte sein gottgefälliges Leben. Dieser Brauch setzte sich in oft handgeschriebenen Würdigungen fort, wenn Adelige oder Geistliche gestorben waren. In privaten Familien war dieser Brauch zu jener Zeit noch nicht üblich. Er begann erst in den Niederlanden mit der Verteilung so genannter Bidprentjes oder Gedachtenisprentjes beim Adel und den Stadtständen. Auf den Zetteln waren Name und Lebensdaten des Verstorbenen mit der Bitte vermerkt, für dessen Seelenheil zu beten. Dieser Brauch verbreitete sich in den Niederlanden schnell. Bald waren die Bildprentjes auf der Rückseite auch mit Heiligenbildchen versehen. Nach der Französischen Revolution verbreiteten sich die Totenzettel vermutlich wegen der immer häufiger angewandten Fürsprache der aufgedruckten Heiligen von den Niederlanden aus in den katholischen Gebieten Europas. Nach Deutschland schwappte sie von Holland und Belgien zuerst in das katholische Westfalen und in das Rheinland über und festigte sich dieser Brauch vorerst in den Städten. Erst langsam freundete sich die Landbevölkerung mit den kleinen Totenzetteln an, die dann aber rasch zu den Totengebräuchen in der katholischen Landbevölkerung gehörten. In den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 griffen die Angehörigen der Gefallenen den Brauch der Totenzettel auf, um über den Tod ihres Familienmitglieds, weit weg von der Heimat gefallen, zu informieren und um im Gebet seiner zu gedenken. Überführungen der Leiche in die Heimat gab es damals kaum.

Protestanten lehnten Totenzettel aus theologischen Gründen ab

Der Brauch der Totenzettel wurde von den Evangelischen nicht aufgenommen. Dazu Georg Ketteler in „Unser Bocholt“: „Ursache hierfür dürfte u. a. ein anderes theologisches Verständnis von Rechtfertigungs- und Gnadenlehre sein. Es gibt allerdings Ausnahmen.“ Fest steht, dass dadurch eine Ausdehnung dieses Brauchs nach dem Norden und dem Osten des damaligen Deutschland fast gänzlich unterblieb. Heute haben die Totenzettel eine fast einheitliche Struktur, die sich vor allem im 19. Jahrhundert (und etwas früher) herausgebildet hatte. Es geht jetzt weniger um die Information über den Sterbevorfall und Verstorbenen – darüber informieren heute Todesanzeigen in Zeitungen –, als um die Bitte eines Gebets für den Verstorbenen. „Ein Gebet – zumindest ein Stoßgebet (ein kurzer Gebetsruf) – für den Verstorbenen und der Wunsch, dass er nun im Jenseits das ewige Glück und die ewige Ruhe erlangen möge, sind das Hauptanliegen des Totenzettels“ (Georg Ketteler).

Mit Symbolen geschmückt – Gefallenenbildchen mit dem Eisernen Kreuz

Dorstener Gefallenenbildchen

Wie alles andere, so unterliegt auch der Totenzettel in seiner Gestaltung dem Geschmack der Zeit. Heute ist man weitgehend weggekommen von Vorlagen, die manchmal die Grenze zum Kitsch überschritten haben. Das Grundmuster blieb allerdings erhalten. Die Vorderseite zeigt meist ein symbolhaftes Bild aus der christlichen Darstellungswelt. Dazu zählen das Kreuz, Schutzengel, die heilige Familie oder die Heiligen Joseph, Antonius oder Thekla, die als Sterbepatrone gelten. Es gibt aber auch Mariendarstellungen, Abbildungen von Pfarrkirchen und Kreuzigungsbilder. Auch die betenden Hände von Albrecht Dürer sind ein oft gedrucktes Motiv. Die Innenseiten sind mit Bibelsprüchen, Informationen über den Verstorbenen, manchmal mit seinem Konterfei versehen, meist auch mit den Namen Jesus! Maria! Joseph! und dem Namen eines Heiligen sowie mit dem Satz „Zum christlich-frommen Andenken“. Das Format ist weitgehend gleich und den Gebetbüchern angepasst, in die sie hineingelegt werden sollen. Im Zweiten Weltkrieg wurden Totenzettel bzw. Gefallenenbildchen auch mit dem Hakenkreuz oder SS-Zeichen versehen.

Grabzettel, Leichenzettel, Sterbekärtchen und Gefallenenbildchen

Neben dem, was Totenzettel im Lauf der Jahrhunderte für Aufgaben hatten – informative, lobpreisende, theologische, religiöse – , sind sie heute auch eine Fundgrube genealogischer Daten und verwandtschaftlicher Zusammenhänge und somit ein Stück Heimatgeschichte. Stadtarchive und Museen in München, Würzburg, Bocholt, Düsseldorf, um einige zu nennen, verfügen über große Sammlungen von Totenzetteln, für die es landschaftlich verschiedene Bezeichnungen entwickelt haben. Bildprentjes in den Niederlanden, Totenzettel im Rheinland, Sterbebildchen in Bayern und Österreich, Trauerzettel, Grabzettel, Leichenzettel und Sterbekärtchen heißen sie auch noch in Deutschland, Leidzettel in der Schweiz. Gefallenenbildchen nennt man sie bei Soldaten. Als „Letzte Visitenkarte“ wird der Totenzettel in der Broschüre von Fritz Demmel bezeichnet, in der reich bebilderte Exponate thematische erläutert sind.

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