Stolpersteine

Massen-Aktion gedenkt der ermordeten Juden im Pflaster der Straßen

Der Kölner Unternehmer Günter Demnig verfolgt seit 1993 die Idee, mit den so genannten Stolpersteinen an jüdische Bürger, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende und religiös Verfolgte zu erinnern. Ausgezeichnet wurde er für die Gedenk- und Geschäftsidee u. a. mit dem „German Jewish History Award“ der Obermayer Foundation (2005), mit dem Bundesverdienstkreuz, der „Alternativen Ehrenbürgerschaft“ in Köln und 2012 mit dem angesehenen Marion-Dönhoff-Förderpreis ausgezeichnet.

Stolpersteine finden überwiegend Zustimmung, aber auch Kritik

Stolperstein-Erfinder ................ D............ in Dorsten

Günter Demnig in Dorsten

2005 präsentierte Demnig sein Projekt in Dorsten und fand überwiegend Zustimmung und Dorstener, die die Stolpersteine finanzieren wollten. Seither gibt es in Dorsten eine lose zusammengefügte „Aktionsgemeinschaft Stolpersteine“. An der Finanzierung beteiligten sich Gewerkschaften, Einzelpersonen, Parteien, die durch Finanzierung so genannte Patenschaften übernehmen. Für einen Stein kassierte der Unternehmer Demnig (Foto links: Demnig bei der Arbeit in Dorsten) anfangs 95 Euro. Es gab und gibt auch kritische Stimmen derer, die diese Aktion von der Durchführung her nicht gut heißen: Die Namen der jüdischen Opfer auf den Metallplatten in der Straße werden mit Füßen getreten, im religiösen Judentum wird so etwas kritisch gesehen. Auf Initiative der „Frauen für den Frieden“ verlegte Günter Demnig 2006 die ersten Stolpersteine in den Straßenbelag vor den Häusern, in denen einst Juden wohnten, die in der NS-Zeit vertrieben oder ermordet worden waren. Der Gruppe gehörten an: Nelly Beckers, Christa Bubner, Birgit Lapke, Ulrike Mattheus-Robbert, Gabi Schöneweiß und Gyburg Sonnemann. Die Stolpersteine sind mit Namen und Lebensdaten versehene Messingplatten. In den folgenden Jahren übernahmen Dorstener Bürger und Schüler/innen jeweiligen Patenschaften, um die Aktion zu finanzieren.

Mit Stand von 2021 wurden in Dorsten 38 Stolpersteine verlegt

Altstadt, Ursulastraße: Klara Schöndorf, Paul Schöndorf, Eline Schöndorf, Elly Schöndorf, Ida Schöndorf; Wiesenstraße: Julius Metzger, Judis Metzger, Mathilde Metzger, Sara Metzger, Walter Metzger; Essener Straße: Simon Reifeisen, Gertrud Reifeisen, Walter Perlstein, Ursula Perlstein, Robert Perlstein, Reha Perlstein, Ingeborg Perlstein, Hermann Perlstein, Hedwig Perlstein, Grete Perlstein, Hertha Becker geb. Perlstein; Lippestraße: Rosalie Ambrunn, Kurt Ambrunn, Julis Ambrunn, Hildegard Perlstein, Hermann Levinstein, Emile Fruchtzweig; Markt: Ernst Joseph, Louise Joseph; Ostwall: Walter Rosenbaum.
Wulfen, Matthäusplatz: Günter Lebenstein, Josef Lebenstein, Paula Lebenstein, Herta Münzer, Peter Münzer.
Lembeck, Wulfener Straße: Selma Lebenstein, Hugo Lebenstein, Bertha Lebenstein.

Gemeinsame Putzaktion im November 2015

Im November 2015 fand im Rahmen des Gedenkens an den 9. November 1938 (Zerstörung der Synagogen) eine Putzaktion statt. Dazu aufgerufen hatten das jüdische Museum und die „Frauen für den Frieden“. Mit Putzmitteln und Lappen wurden die 38 Stolpersteine im Stadtgebiet gereinigt und anschließend eine Rose zur Erinnerung an die Opfer niedergelegt.

Gesamtschüler reinigten 2021 Stolpersteine in Wulfen

An zwei aufeinanderfolgen Tagen im Juni 2021 haben Schüler der Klasse 10.3 der Gesamtschule Wulfen Stolpersteine in Dorsten gereinigt und poliert, damit nichts vergessen wird, so die beiden Klassenlehrer Katrin Klöpfer und Markus Steiner. Es handelt sich bei den Stolpersteinen um Messingplatten in Kopfsteinpflastergröße. Sie werden vor den Häusern verlegt, in denen die Opfer des Nationalsozialismus wohnten und lebten.

Demokratie-AG holte2024  die „Stolpersteine“ in die Gesamtschule Wulfen

Anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus holte die Demokratie-AG die Dorstener Stolpersteine 2024 in die Gesamtschule Wulfen. Der Künstler Gunter Demnig verlegt seit 1992 Stolpersteine, mit denen er den Opfern des Nationalsozialismus gedenkt. Auf kleinen, in den Boden eingelassenen Gedenktafeln wird am letzten frei gewählten Wohnort auf das Schicksal der ehemaligen Bewohner aufmerksam gemacht. „Auf allen 180 Türen unserer Schule ‚stolpern‘ die Schüler seit Wochenbeginn über aufgehängte bunte Plakate. Auf diesen Plakaten findet sich jeweils eines der Fotos der 38 in Dorsten, Wulfen und Lembeck verlegten Stolpersteine mit QR-Codes, die auf die Seiten von stolpersteine-dorsten.de oder stolpersteine.wdr.de verweisen und die jeweilige Person des betreffenden Stolpersteins in den Blick nehmen“, erklärt Schulleiter Hermann Twittenhoff. Schüler können auf diesem Wege die Biografien und die Schicksale der ehemaligen jüdischen Bewohner Dorstens, Wulfens und Lembecks im Internet recherchieren und weitergehende Darstellungen im Internet nutzen. In der Schulstraße finden die Schüler auf Pinnwänden zusätzliches Informationsmaterial, das der Aktion einen erweiterten inhaltlichen Rahmen gibt. „Zusammenhänge mit den antirassistischen Demos vom Wochenende am Gemeinschaftshaus, in Dorsten, in Haltern und Schermbeck werden so intensiver wahrgenommen“, so Hermann Twittenhoff.

Ursulinenschüler reinigten Stolpersteine in der Altstadt

Sie hatten es wieder nötig, die Stolpersteine in der Dorstener Altstadt, die an die Lebenswege und die Ermordung ehemaliger Dorstener Bürger erinnern. Ziemlich verdreckt waren sie und fielen kaum noch auf in der Pflasterumgebung. Da wurde es Zeit, dass sie wieder gereinigt wurden, damit sie in das Blickfeld von Passanten geraten und das tun, wozu sie verlegt worden sind: zum Erinnern und Gedenken. Am letzten Schultag vor den Herbstferien 2022 zogen 30 Schüler und Schülerinnen aus dem Ev. Religionsunterricht der 9. Klassen des St. Ursula-Gymnasiums mit Wasserkanistern, Putzeimer und Reinigungsgerätschaften los, um die Stolpersteine in der Innenstadt von Dorsten gründlich zu reinigen – in der Ursulastraße, der Wiesenstraße, der Lippestraße, der Essener Straße, auf dem Markt und am Ostwall. Alle Beteiligten hatten sich schwarz gekleidet. Die Lebens-Schicksale wurden an den einzelnen Stationen kurz von den Schülern beschrieben, eine Rose niedergelegt an jedem Ort, um die jüdischen Menschen, die zuletzt an diesen Orten lebten und namentlich auf den Steinen genannt sind, zu ehren.

Gesamtschüler reinigten in Wulfen erneut Stolpersteine

Auch in Wulfen an der Matthäuskirche erinnern sie an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Schüler der Klasse 9.3 reinigten Mitte Juni 2023 die Stolpersteine in Wulfen. „Die Gedenksteine berühren, weil sie Menschen in die Gegenwart holen, die einst in unserer Mitte lebten. In Wulfen war das die Familie Lebenstein“, argumentierte Geschichtslehrer Constantin Runde. Mit seinem Projekt will der Aktionskünstler Gunter Demnig die Menschen über den Nazi-Terror in ihrer unmittelbaren Umgebung stolpern lassen. „Und wir wollen dabei helfen, dass diese Spuren in unserer Geschichte niemals beseitigt werden“, sagt Constantin Runde und weiter: „Der Bezug zu Rassismus in der Gegenwart wird hergestellt mit dem Fazit: Dulde keinen Rassismus, misch dich ein und bezieh Stellung.“

Finanzamt: Stolpersteine sind keine Kunst

Während Demnig selbst und viele seiner Befürworter das Verlegen der Stolpersteine als Kunst ansehen, interpretiert das Kölner Finanzamt das anders. Aufgrund der Menge der Steine stufte die Behörde sie als Hinweisschilder und damit Massenware ein. Das hat für den Bildhauer Folgen. Für Kunst sind nur sieben Prozent Mehrwertsteuer fällig, für Massenware 19 Prozent. Daher verlangte das Finanzamt von dem Stolperstein-Produzenten eine Nachzahlung in Höhe von 150.000 Euro (Berliner Zeitung „Unfassbarer Irrsinn“). In der ARD sagte der 63-jährige Gunter Demnig, dass er jetzt Hartz IV beantragen müsse. Durch diese und andere Medienberichte aufgescheucht, befreite Nordrhein-Westfalens Finanzminister den Stolperstein-Verleger von der Nachzahlung. Allerdings blieb es dabei, dass Demnig keine Kunst macht, sondern Massenware herstellt und künftig einen höheren Steuersatz zahlen muss.

Stolpersteine vor ihrem Haus: Kläger verloren den Prozess

Im Oktober 2010 hatte Demnig vor dem Haus Nr. 146b in der Stuttgarter Hohentwielstraße gegen den Willen der Hauseigentümer Stolpersteine verlegt. Sie sahen darin eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung und eine Beeinträchtigung des Besitzes. Sie klagten vor dem Amtsgericht gegen die Stadt Stuttgart und unterlagen. Die Richterin urteilte im März 2011, dass „die Stolpersteine keine Eigentumsverletzung“ darstellten. Die Kläger blieben bei ihrer Auffassung: „Unser Haus an der Hohentwielstraße, das damals schon im Besitz unserer Familie war, ist nicht der letzte, frei gewählte Wohnsitz des jüdischen Ehepaars gewesen.“ Deshalb sei die Verlegung der Stolpersteine an dieser Stelle auch „historisch falsch“.
Neben des Opfergedenkens der Aktion („Jeder Stein ein Leben“), die Demnig viele Preise und das Bundesverdienstkreuz einbrachte, wurde die „Erinnerungskunst“ für ihn auch ein Geschäft. Bei bislang rund 30.000 Verlegungen nahm er 2,85 Millionen Euro ein.

Stolpersteine Familie Reifeisen

Stolpersteine für die Familie Reifeisen in der Essener Straße

Kommentar von Wolf Stegemann: Gedenkort des Gedenkens

Die Zustimmung zu Demnigs Stolpersteinen ist zwar groß, findet aber auch kritische Stimmen. Eine der gewichtigsten ist die von Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie empfindet es als „unerträglich“, wenn die Namen von ermordeten Juden auf Tafeln zu lesen sind, die im Boden von Gehwegen eingelassen sind, und auf denen mit Füßen herumgetreten werden könne. Religiöse Juden sehen darin eine Verunglimpfung, denn eine würdige Darstellung der Namen von Verstorbenen ist ihnen wichtig. Der Herr, so steht es in der Bibel, ruft sie bei ihrem Namen. Die Namensaktion mit den „Stolpersteinen“ sehen Juden allerdings auch anders.
An Günter Demnigs metallenen Stolpersteinen haftet nicht nur der Dreck der Straße, der aufgewirbelte Staub der darüber hinweggehenden Schuhe und auch mögliche Hinterlassenschaften der Hunde, an den Stolpersteinen haftet auch ein zu beachtlicher Größe angewachsenes Geschäft mit der Erinnerung, das mitunter den Zweck, nämlich das ehrende Angedenken und die Mahnung in den Hintergrund treten lässt mit dem Bemerken: „Ach ja, auch hier!“ Die Bundesrepublik ist bereits überzogen mit Stolpersteinen, über die niemand mehr stolpert. Ende des Jahres 2008 waren in gut 400 Städten und Gemeinden in Deutschland etwa 17.000 Stolpersteine gesetzt; europaweit sind es 30.000 (Stand 2011). Ein noch nicht ausgereiztes Millionengeschäft.
Der Künstler achtet sehr darauf, dass das Gedenken mit seinen Stolpersteinen für ihn ein lukratives Geschäft bleibt. Mittlerweile blinken seine genormten und gestanzten Angedenken-Steine auch in Österreich und Rom. In Wien werden sie als „Steine der Erinnerung“ von der Stadt Wien selbst (ohne Demnig) verlegt, was Demnig als „Plagiat“ empfindet und es am liebsten verhindert möchte. Auch in den Niederlanden, in Polen, in Tschechien, der Ukraine und in Ungarn verlegte Demnig Stolpersteine; Italien und Frankreich befinden sich in der Planung.
Kaum jemand kann sich dieser „Stolperstein“-Gedenken- und Mahnwelle im Boden entziehen. Man macht mit, weil es überall gemacht wird. Etliche Städte verweigern sich dennoch und lehnen die Genehmigung zum Verlegen von Stolpersteinen ab. In München wurden bereits verlegte Stolpersteine wieder entfernt, weil man Bedenken aus jüdischen Kreisen ernst nahm. Krefeld lehnte zuerst ab, weil die jüdische Gemeinde Bedenken äußerte. Doch Kreise der Bevölkerung setzten sich über die jüdischen Wünsche hinweg und zwangen die Stadt über ein Bürgerbegehren, die Bedenken der jüdischen Gemeinde zu missachten und die Demnig’sche Bodenhaltung des Gedenkens umzusetzen. Inzwischen wurden Stolpersteine in Krefeld verlegt.
Dorsten ist mittlerweile ein Gedenkort des Gedenkens: Mit der Anbringung der ersten Gedenktafel 1983 am Alten Rathaus wurde erstmals sichtbar der ermordeten jüdischen Bürger gedacht. Im Garten des Jüdischen Museums steht ein Gedenkstein (1992), der an die untergegangenen jüdischen Gemeinden im Kreis erinnert, an den jüdischen Friedhöfen erinnern Gedenktafeln an die ermordeten Juden (1985), der erste Band „Dorsten unterm Hakenkreuz“ (1983, Stegemann/Hartwich) ist den ermordeten Juden gewidmet und im Band „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“ (1987, Stegemann/Eichmann) ist den namentlich genannten Juden in Dorsten gewidmet, die in der NS-Zeit ermordet worden waren.
Der Dorstener Stadtrat genehmigte 2005 die Verlegung der Stolpersteine. Der Beschluss wurde mehrheitlich gefasst. Es gab eine Gegenstimme. SPD-Ratsfrau Petra Somberg-Romanski, selbst jüdischer Abstammung, stimmte nach einer persönlichen Erklärung (deckungsgleich mit den Argumenten der jüdischen Gemeinden) gegen die Verlegung der „Stolpersteine“ in Dorsten.

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