Stadtarchiv

Das Gedächtnis einer Stadt fiel Feuer und Kriegen zum Opfer

Keine Institution ist mit der wechselvollen Geschichte der Stadt so verbunden wie das Archiv (im Kulturzentrum Maria Lindenhof). Seit jeher wurden Urkunden, Schriftgut und Verwaltungsakten aufbewahrt, ohne dies Archivieren und den Ort der Aufbewahrung Archiv zu nennen. Im „liber statutorum oppidi Dursten“ von 1432 steht, dass es eine so genannte „Stadtkiste“ gab. In ihr wurden Urkunden und Schriften aufbewahrt. Diese eiserne Truhe war mit Schlössern und Riegeln versehen, in der auch Bürger ihre privaten Urkunden und Dokumente aufbewahren konnten. Die Stadt besaß neben dieser „Stadtkiste“ noch ein „Steinhaus“, das mitten in der damals üblichen Holzbauweise eine Ausnahme und somit bei Bränden besser geschützt war. Daher war dies das Rathaus, in dem Urkunden und die eiserne Stadtkiste gelagert wurden. Oft wurden auch Urkunden in Kirchtürmen aufbewahrt.

Archivarin Christa Setzer; Foto: Jana Kolbe (DZ)

Archivarin Christa Setzer; Foto: Jana Kolbe (DZ)

Viele Urkunden waren Eigentum der Bürger

Während des Dreißigjährigen im 17. und des Siebenjährigen Kriegs im 18. Jahrhundert gingen große Bestände an Urkunden und Schriften verloren. 1704 brannte das Haus des Stadtschreibers ab, in dem ebenfalls städtische Urkunden lagerten. Plünderungen, Brände, Fremdherrschaften und auch mangelnde Sorgfalt führten zu Verlusten und zerstörten auch die Registraturen. So kann heute davon ausgegangen werden, dass viele Urkunden im Stadtarchiv ursprünglich Bürgereigentum waren. Die Urkunde zur Stadtwerdung befindet sich in Xanten, die Gründungsurkunde des Franziskanerklosters in deren Besitz, die Urkunde des Salentinischen Rezesses in Recklinghausen. Die älteste Urkunde im Dorstener Stadtarchiv ist eine päpstliche Bulle und stammt aus dem Jahre 1330.

Bücherei und Zeitungsarchiv abgegliedert

1891 erstellte Gymnasialprofessor Dr. Albert Weskamp ein erstes Verzeichnis der Archivalien. Von 1896 bis 1902 war das Archiv in großer Unordnung im Dachgeschoss des (Alten) Rathauses untergebracht. Daher versuchten Architekt Hoffstetter und Lehrer Kaspar Laukemper in den 1920er-Jahren Ordnung in die Sammlung zu bringen. Angegliedert wurden dem Archiv eine Bücherei und ein Zeitungsarchiv. Ab 1929 betreute der Lehrer und Nationalsozialist Kaspar Laukemper das Archiv. 1932 kam es zusammen mit dem Heimatmuseum ins Haus Rive am Südwall 13. Staatsarchivassessor Dr. Utsch (Münster) repertorisierte 1934/35 die alten Urkunden bis zum Wiener Kongress (Altes Archiv) und die der Zeit nach 1815 (Neues Archiv). 1935 wurde das Archiv im ehemaligen Polizeigefängnis an der Katharinenstraße untergebracht und das Heimatmuseum im Alten Rathaus.

Bei Kriegsende gingen viele Archivalien verloren

Beim Bombenangriff im März 1945 hatte auch das Archiv stark gelitten. Das Pfarrarchiv St. Agatha hatte große Verluste. Auch in den ersten Nachkriegsmonaten gingen Teile des frei zugänglichen Archivguts durch Plünderungen und unsachgemäße Lagerung (Witterungseinflüsse) verloren. Im September 1945 nahm sich Gymnasiallehrer Dr. Haunerland der verwahrlosten Bestände an. Seit August 1946 betreute Dr. Franz Wünsch (aus Aussig a. d. Elbe) die Archivbestände, die er in den darauf folgenden Jahren katalogisierte Die beiden ältesten Archivalien, zwei Stadtbücher aus dem 15. Jahrhundert, waren durch Regenwasser so stark vermodert, dass sie auch vom Staatsarchiv Münster nicht mehr gerettet werden konnten. Dagegen wurden durch Plünderung abhanden gekommenen 35 Urkunden wieder aufgefunden; allerdings blieb der größte Teil verloren. Durch eine Schenkung des Zeitungs- und Druckereibesitzers Josef Weber konnte das Zeitungsarchiv auf 174 Bände gebracht werden. Ein weiteres altes Dokument der Stadt, das im letzten Krieg stark zerstörte „Bürgerbuch“ aus dem Jahre 1414, wird restauriert. Ende 2011 stellte die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ aus einem Sonderprogramm Finanzmittel zur Restaurierung zur Verfügung, damit es erhalten bleibt und für die Forschung wieder nutzbar und lesbar ist (siehe Bürgerbuch).

Archiv ins neue Kultur- und Bildungszentrum Maria Lindenhof verlegt

Das Dorstener Stadtarchiv umfasst rund 100.000 Archiveinheiten, das sind 550 Urkunden und 9.000 Akten, Amtsbücher und Schriftstücke von 1300 bis 1815 und 7.500 Akten ab 1815. Dazu kommen Zeitungsbände (über 1.000 Bände ergeben rund 60 Meter), Fotos, Plakate, Karten sowie eine Bibliothek, deren Aufarbeitung vor allem auch ein Verdienst des 1979 ausgeschiedenen Archivars Paul Fiege ist. Seit dieser Zeit ist die Diplom-Archivarin Christa Setzer Leiterin des Stadtarchivs, das 1976 vom Keller der Bonifatiusschule in das neu errichtete Bildungszentrum Maria Lindenhof verlegt worden war.

Neuer Stadtarchivar Martin Köcher sucht das Bild des Menschenfressers

Die langjährige Stadtarchivarin Christa Setzer ging 2019 in den Ruhestand. Ihr Nachfolger ist Martin Köcher (Foto). Bereits vor 20 Jahren machte er hier seine Ausbildung als Fachangestellter für Medien- und Informationsdienste mit der Fachrichtung Archiv. Ausbilderin war damals war seine Vorgängerin Christa Setzer. Nach der Ausbildung wechselte er zum Wirtschaftsarchiv des Mineralölkonzerns BP/Aral. Köcher ging zur Abteilung Denkmalpflege beim LWL und später zum Essener Bistumsarchiv. Martin Köcher hat schon seine Lieblingsthemen im Kopf, denen er sich in Zukunft widmen will, wie ihn im September 2019 die „Dorstener Zeitung“ zitierte. Etwa die Geschichte der ehemaligen Heilanstalt Maria Lindenhof. Oder die des Dorstener Menschenfressers. Franz Wahrmann, der mehrere Menschen, darunter seine eigenen Kinder, getötet und verspeist hatte, war 1699 hingerichtet worden. Bis zum Kriegsende hing ein Gemälde des Menschenfressers im Alten Rathaus am Markt, seit 1945 ist es verschollen. Er möchte herausfinden, wo das Bild geblieben ist. Leser des Artikel in der „Dorstener Zeitung“ zeigten sich bei der Darstellung seines Lieblingsthemas Heilanstalt Maria Lindenhof der „Barmherzigen Brüder von Montabaur“ irritiert, denn die Geschichte diese Hauses ist bereits umfassend aufgearbeitet und veröffentlicht. Diese Geschichte wurde bereits von dem Journalisten Wolf Stegemann unter wissenschaftlichen Gesichtpunkten im Stadtarchiv Dorsten, im Archiv der „Barmherzigen Brüder“ in Montabaur und in Stadtarchiv Essen (Zeitungsarchiv) aufgearbeitet und 1984 im 2. Band „Dorsten unterm Hakenkreuz – Kirche zwischen Anpassung und Widerstand“ 1984 und seit 2015 in der Online-Dokumentation „Dorsten unterm Hakenkreuz“ veröffentlicht.

CDU und Grüne fordern Erneuerung des „vernachlässigten“ Stadtarchivs

Das Stadtarchiv ist laut SPD „sträflich vernachlässigt“. Bernd-Josef Schwane (CDU) und Thorsten Huxel (Grüne) haben nun der Veraltung und Lokalpolitik Anträge vorgelegt, wie die „Vernachlässigung“ zu beheben sei. Bereits im Mai 2022 war das Problem im Schul- und Weiterbildungsausschuss besprochen worden: Im mit Baumängeln behaftetes Stadtarchiv, untergebracht im Erdgeschoss des VHS-Gebäudes, fehlen Personal und eine Brandmeldeanlage. Ratsmitglied Bernd-Josef Schwane forderte für die CDU nun ein Konzept, das die Verwaltung im ersten Halbjahr 2023 vorlegen soll, um das Stadtarchiv zu einem „Zentrum für Stadtgeschichte und Demokratie“ auszubauen. Eine Historiker-Stelle mit dem Schwerpunkt Lokal-/Regionalgeschichte und Demokratiebildung soll bereits im Stellenplan 2023 berücksichtigt werden – teilweise gegenfinanziert aus der aktuell unbesetzten halben Zuarbeiter-Stelle im Stadtarchiv. Zeitnah wird eine Brand- und Feuchtigkeitsmeldeanlage für den historischen Archivbestand gefordert. Mittelfristig sollen die Räumlichkeiten und Archivmöglichkeiten des  Stadtarchivs im Bildungszentrum Maria Lindenhof modernisiert werden. Konzeptionell soll das Stadtarchiv die Angebote der Lokal- und Regionalgeschichte für Kindergärten, Schulen und Erwachsenenbildung in Kooperation mit Dorstener Heimatvereinen und diversen Stadtämtern entwickeln. – Für die Weiterentwicklung des Archivs schwebt den Grünen ein Stadtgeschichtliches Zentrum vor. Zeitlich könnte das 775-jährige Stadtjubiläum im Jahr 2026 eine Zielmarke sein.

Dazu Friedhelm Fragemann: „Erst die Pflicht, dann die Kür“

Zu den Anträgen von CDU und Grünen zum Stadtarchiv meinte der Fraktionsvorsitzende Friedhelm Fragemann: „Der SPD-Weckruf in Sachen Stadtarchiv zeigt offenbar Wirkung.“ Denn die CDU nehme nahezu alle Aspekte und Maßnahmen zur Stärkung des Stadtarchivs auf, die im SPD-Antrag vom Mai 2022 angesprochen wurden. Die SPD hatte damals die „sträfliche Vernachlässigung einer Pflichtaufgabe“ kritisiert und eine personelle Aufstockung sowie materielle und räumliche Verbesserungen eingefordert. „Einen – wie in dem CDU-Antrag vorgeschlagen – Historiker einzustellen, statt einer Archivkraft, schafft allerdings keine Abhilfe in der aktuellen Problemlage“, kommentiert Dirk Groß, Vorsitzender des Ausschusses für Schule und Weiterbildung. Zur Einstellung eines Historikers meinte Fragemann, dass zuerst Pflichtaufgaben erfüllt werden müssten, „Ein Historiker ist Zukunftsmusik.“ Dringend müsse eine Alarmanlage aus Brandschutzgründen und Gründen der Sicherung vor Diebstahl installiert werden.

Stadtmodell auf Grundlage des Merians-Stiches von 1647

Das Stadtarchiv ist seit 2024 um eine Besonderheit reicher. In den Räumen im Gebäude der Volkshochschule (VHS) auf Maria Lindenhof können Bürger ab Januar 2024 ein Stadtmodell von Dorsten aus dem Jahr 1647 nach Vorlage der Stiche von Merian besichtigen. Erstellt wurde dieses Modell in den Maßen 73 mal 77 Zentimeter von Klaus Grapow, einem mittlerweile 85 Jahre alten Architekten aus der Stadt Dreieich im Landkreis Offenbach. Klaus Grapow fertigt seit Beginn seines Ruhestandes Modelle von Städten nach Vorlage des Merian-Stiches an und fragte bei der Stadt Dorsten an, ob Interesse an einem solchen Modell besteht. Insgesamt hat er schon mehr als 25 Modelle gefertigt. Das in etwa 150 Arbeitsstunden hergestellte Dorsten-Modell hatte er dem Stadtarchiv Dorsten geschenkt. Als Dankeschön für das besondere Engagement hat Bürgermeister Tobias Stockhoff dem Erbauer Klaus Grapow das Buch „Dorsten – eine Zeitreise“ zugeschickt und in einem Brief auch eine Einladung nach Dorsten ausgesprochen.

Tag der Archive 2024: „Essen und Trinken“ – auch im Stadtarchiv

Das Stadtarchiv Dorsten öffnete auch bei der zwölften Auflage am „Tag der Archive“ am 2. März 2024 seine Türen. Bürgerinnen und Bürger waren an diesem Tag zum Besuch in die Räumlichkeiten des Archivs im Gebäude der Volkshochschule eingeladen. Der „Tag der Archive“ stand unter dem Motto „Essen und Trinken.“ Das Stadtarchiv Dorsten bot daher nicht nur Führungen an, sondern bat auch zu Tisch. Das Stadtarchiv nahm auch im Jahr 2024 am „Kulturrucksack NRW“ teil. Teilnehmen konnten alle Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren, begrenzt auf zwölf Kinder, die Stadtarchivar Martin Köcher am 5. März durch das Archiv, die „Schatzkammer der Stadt“, führte und u. a. Geschichten wie die des Menschenfressers Franz Wahmann und die der verbrannten „Hexen“ erfuhren. Ein Quiz rundete den spannenden Tag ab.

Siehe auch: Menschenfresser Franz Wahrmann
Siehe auch: Barmherzige Brüder von Montabaur/Maria Lindenhof


Quellen: Nach Paul Fiege in WAZ-Sonderbeilage zum 625-jährigen Stadtjubiläum 1976. – Jahresberichte des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Vestischen Zeitschrift. – Berthold Fehmer in DZ vom 1. Sept. 2022 .– Berthold Fehmer in DZ vom 6. Sept. 2022.

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