Natteforth, Oberförsterei

Im Haus der Jolys gingen westfälische Dichter ein und aus

Abschied von Natteforth

Ein Paradies –  der Heimat Vaterland –
Gab Gottes Schöpferfreude einem jeden;
Doch einmal wird der Mensch daraus verbannt,
Wie unsere Eltern aus dem Garten Eden.

Es ist die weite Welt so schön und groß
Und unsere Heimat rings, die deutsche Erde –
Trifft uns nun auch der ganzen Menschheit Los,
Sei frei das Herz von kleinlicher Beschwerde:

Wir wollen das, was alle überstehen,
Auch nehmen wie ein nötiges Geschehn.
Das Vaterland, das wir von Herzen lieben,
die deutsche Heimat ist uns ja geblieben!
– Liesel Joly, 1933

Haus Natteforth 2002; Foto: Wolf Stegemann

Haus Natteforth 2002; Foto: Wolf Stegemann

Lembecker Richter gab dem Haus den Namen

Bevor das Haus der Grafen von Merveldt Oberförsterei wurde, war Haus Natteforth der Wohnsitz der Herrlichkeitsrichter und danach das Haus der gräflich-merveldtschen Rentmeister. Seinen Namen bekam das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaute Haus vermutlich durch den Richter Joseph Nattefort, der mit seiner Familie in dem Haus, das zum Kirchspiel Wulfen gehörte, wohnte. In einer Populationsliste aus dem Jahre 1805 geht hervor, dass in dem Haus 15 Menschen wohnten, neben dem Richter noch dessen Frau Ursula Jungeblut (auch Jungeblod) sowie ein Sohn und vier Töchter. Zum „Gesind“ gehörten noch fünf männliche und drei weibliche Personen. Später wurde das Haus Oberförsterei. Vor dem Richter Nattefort bewohnte der Hofrat Jungeblod, Schwiegervater des Joseph Nattefort, als „Lembeckischer Richter“ das Haus. Zu Martini 1789 erhielt er ein Salär von 64 Talern und eine nicht bekannte Anzahl „Scheffel Haber“.

Als des gräflichen Oberförsters Tochter Liesel Joly in Haus Natteforth wohnte, war das Forsthaus Sammelpunkt für Menschen, die der Natur und Kunst, der Literatur und der Heimatliebe verpflichtet waren. Westfälische Dichter wie Castelle, Hauptmann und Wibbelt gingen in Natteforth ein und aus. Liesel Joly hielt diesen Besuchskreis zusammen, was sie selbst zum Dichten anregte. In seinen Lebenserinnerungen „Der versunkene Garten“ schrieb der Priester und westfälische Dichter Augustin Wibbelt:

„Auch im Forsthaus Natteforth, wo ein damals noch lediger junger Oberförster, Paul Joly, ein fröhliches Junggesellenleben führte, waren wir [Wibbelt und sein Freund Möllers; siehe Wibbelt] immer willkommen und haben wir die herrlichsten Stunden verlebt.“

Haus Natteforth gehörte zum Kirchspiel Wulfen

Oberförsterei Natteforth

Oberförsterei Natteforth damals noch ein Idyll

Hugo Hölker schrieb im Heimatkalender 1981, dass die Herrlichkeit Lembeck praktisch und direkt verwaltet wurde von dem Rentmeister, der traditionsgemäß auf Haus Natteforth lebte. Zur Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756 bis 1763) wohnte dort der Rentmeister J. B. Ummius. In einer Personenschatzung des Amtes Ahaus aus dem Jahre 1778 bewohnte das Haus der Rentmeister Schlüter mit seiner Familie und den aufgeführten Dienstboten. Danach lag das Haus Natteforth im Kirchspiel Wulfen, Bauerschaft „Dimcken“ Nr. 22.  Die postalische Adresse für das Haus Natteforth „Wulfen, Dimke Nr. 22“ bestand bis Mitte 1950. Ab 1935 bis Mitte der 1950er-Jahre wohnte der Rentrmeister Bernhard Dreymann im Haus. Danach wurde es zu unterschiedlichen Zwecken verpachtet. Derzeit als Wohnhaus an eine Familie.

Im Tagebuch schilderte Liesel Joly die Ereignisse

Zu den bemerkenswerten Bewohnern des Hauses gehörte der gbereits genannte gräflich-merveldtsche Oberförster Paul Joly. Die etwa 100 Meter lange Allee, die auf das Haus zuführt, bepflanzte er zur Taufe einer seiner beiden Töchter. Eine von ihnen, Liesel, hielt ihre Erlebnisse im Haus Natteforth in ihrem Tagebuch fest. Im März 1919 beschrieb sie, wie sie sich plötzlich revolutionären Spartakisten gegenübersah, die den Grafen suchten:

Es mochte sieben in der Frühe sein. Ich wollte gerade zum Waschtisch gehen, als ich plötzlich draußen auf der Chaussee ein sonderbares Getöse in dieser Herrgottsfrühe hörte. Ich stieg in die kleine, neben meinem Zimmer gelegene Dachkammer, sah aus dem Fensterchen, und das Herz stockte mir: Ich erblickte vor unserem Haus einen riesigen, grauen Lastkraftwagen mit roten Fahnen, aus dem sich eine ungezählte Menge bewaffnetes Volk entlud, das unser Haus umstellte. […]Ich ging sofort nach unten und kam gerade, als einige der roten Herren mit Gewehrkolben hinten gegen die Küchentür schlugen. Ich befahl den verschüchterten, in eine Ecke zusammengedrängten Mädchen, sich ruhig zu verhalten, ging mit festem Schritt auf die Türe los, drehte den Schlüssel um, schob den Riegel zurück, riss die schwere Tür weit auf: „Guten Morgen, meine Herren, was wollen sie?“ – „Wir suchen den Hund, den Schuft, den Kerl – wo ist er – gebt ihn heraus!“ Ich war, wie oft in verzweifelten Fällen, ganz ruhig und überlegen: „Hier wohnt kein Schuft und kein Lump – hier wohnt der gräfliche Oberförster!“

„Wir wollen den Grafen haben“, brüllte einer wild. Da platze ich los: „Der Herr Graf lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich!“ Worauf mir einer der Genossen, der einen gebildeten Eindruck machte, sehr ungebildet einen unzarten Rippenstoß versetzte, so dass ich zur Seite flog.

Danach durchsuchten die Spartakisten das Haus nach Kriegswaffen. Als sie keine fanden, sahen sie mit „gierige Blicken“ auf den Frühstückstisch. Der Kommandant sammelte dann seine „verstreut auf Entdeckungsreise gewesenen Genossen wieder in die Lastwagen. Danach schrieb Liesel Joly in ihr Tagebuch:

„Natteforth lag im Duft und Sonnenschein, als sei alles Erlebte nur ein Traum gewesen. Ich stand ein Weilchen auf der Chaussee und sah in die Weite. Es flimmerte und glühte, die Natur war herrlich in ihrem Frühlingsglanz…“

Wegekreuz am Haus Natteforth mehrmals zerstört

Das auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Haus Natteforth stehende so genannte Natteforth-Steinkreuz ist 1856 als Missionskreuz aufgestellt worden. Die Wulfener Pfarrgemeinde St. Matthäus nutzte das Kreuz bei der Hagel-Prozession als Station. Im August 2008 wurde das Kreuz nach Witterungsschäden auf Anregung des Heimatvereins Lembeck in Absprache mit dem Heimatverein Wulfen für eine beträchtliche Summe restauriert. Die Kosten übernahmen die Heimatvereine und die Kirchengemeinden St. Laurentius Lembeck und St. Matthäus Wulfen. Im Februar 2012 beschädigten bislang Unbekannte das Kreuz erneut. Von der Dornenkrone und dem Antlitz der Christusfigur splitterten durch Steinwürfe Steinteile ab. Der rechte Arm der Figur wurde in drei Teile zertrümmert, beide Schienbeine durchtrennt und die Zehen abgeschlagen. Die historische Ablasstafel mit altdeutschen Schriftzügen wurde aus der Verankerung gerissen und in vier Teile irreparabel zerschlagen.

Anmerkung: Im 19. und bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Natteforth auch in amtlichen Texten ohne -h- geschrieben. Auch die Familiennamen Nattefort schreiben sich heute noch ohne h. Irgendwann wurde das Wort Nattefort am Ende mit einem -h- versehen. Diese Schreibweise wurde bis heute beibehalten, obwohl vermutlich die Version ohne -h- die historisch korrekte sein dürfte.


Quellen:
Hugo Hölker „Herr Bürgermeister, Du sollst…“ in HK Lembeck 1981. – Stegemann/Klapsing „Dorsten zwischen Kaiserreich und Hakenkreuz“, Dorsten 1987. – DZ vom 15. November 2006. – Auskünfte Ferdinand Graf Merveldt, Manfred Steiger (2011).

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