Jüd. Gemeinde Dorsten

Erst mit dem Toleranzedikt durften Juden wieder in der Stadt leben

Dorstener Volkszeitung 1932 (Ausriss)

Dorstener Volkszeitung 1932 (Ausriss)

Von Wolf Stegemann – Schriftliche Zeugnisse einer frühen jüdischen Gemeinde in Dorsten gibt es nicht. Erst 1808 durften Juden auf Grund der napoleonischen Gesetzgebung wieder in der Stadt Dorsten leben; in den Landgemeinden mit Geleitbriefen der Territorialherrschaft allerdings schon immer. Im 16. Jahrhundert verbot der Erzbischof von Köln als Landesherr den Wohnaufenthalt von Juden in der Stadt. Allerdings ist durch die Existenz des jüdischen Friedhofs im so genannten Judenbusch, der erstmals 1628 urkundlich belegt ist, zu vermuten, dass es eine mittelalterliche jüdische Gemeinde in Dorsten gegeben hat. Denn nach innerjüdischem Recht hatten nur bedeutende Gemeinden einen eigenen Friedhof. Zudem war der Handels- und Stapel-Standort Dorsten mit dem Lippeübergang für Ansiedlungen jüdischer Händler bestens geeignet. Wenn es eine frühere Gemeinde gegeben hatte, dann wurde sie spätestens in den größten Juden-Pogromen des Mittelalters Mitte des 13. Jahrhunderts oder zur Zeit der großen Pest von 1347 bis 1351 ausgerottet, denn man beschuldigte die Juden u. a. als Brunnenvergifter und im Pakt mit dem Teufel als Auslöser der Pest.

Dorsten wurde Sitz einer Synagogenhauptgemeinde

Erste Zuzugsgenehmigung für Juden 1808

Erste Zuzugsgenehmigung für Juden 1808

Nach dem napoleonischen Toleranzedikt kamen 1808 die ersten Juden in die Stadt, siedelten sich im Bereich der Wiesenstraße an, bildeten eine Gemeinde und hatten Beträume in Wohnhäusern. 1854 stellte die preußische Regierung jüdische Gemeinden, die bis dahin ohne Rechte waren, den christlichen Religionsgemeinschaften als Körperschaften preußischen Rechts gleich. Juden gründeten rechtsfähige Synagogengemeinden mit Repräsentanz und Vorstand. Da Dorsten und Recklinghausen die einzigen Städte im Vest waren, waren sie Sitz von Synagogenhauptgemeinden. Zur „Synagogenhauptgemeinde Dorsten“, die nach Berlin räumlich die größte im Reich war, gehörten die Untergemeinden Buer, Resse, Westerholt, Gladbeck, Bottrop, Marl, Osterfeld, Horst-Emscher, Kirchhellen, Lembeck, Altschermbeck, Wulfen und Erle. 1868 kaufte die Gemeinde das Haus Wiesenstraße 24 und richtet dort eine Synagoge ein. 1932 löste sich die Synagogenhauptgemeinde auf, da die Untergemeinden durch Zuzüge – vornehmlich aus dem Osten – mittlerweile mehr Gemeindemitglieder hatten als Dorsten. 1938 zerstörten SA- und SS-Männer sowie Mitglieder der Hitlerjugend die Innenräume des jüdischen Gemeindehauses mit der im ersten Stockwerk befindlichen Synagoge und verbrannten das Inventar auf dem Marktplatz. 1941 ging die „Synagogengemeinde e.V. Dorsten“ in der von den Nationalsozialisten initiierten „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ zwangsweise auf, das Vermögen der Reichsvereinigung verfiel dem Staat. Ab 1941 mussten die in Dorsten verbliebenen Juden in so genannten „Judenhäusern“ wohnen (jüdisches Gemeindehaus und Wohnhaus Perlstein, Lippestraße 57), um von dort aus am 23. Januar 1942 über Gelsenkirchen in das Ghetto nach Riga deportiert zu werden.
Ab 1991 zogen wieder jüdische Familien nach Dorsten, die aus den GUS-Staaten übersiedelten. Die erste Familie, die kam, hieß Wolfson. Sie und nachfolgende Familien gehörten der jüdischen Kultusgemeinde Bochum-Herne-Recklinghausen an, die ihre Synagoge und ihr Gemeindehaus in Recklinghausen hat, und von der sich mittlerweile Herne und Bochum gelöst haben (siehe Jüdische Kultusgemeinde Recklinghausen).

Erste Statuten der Gemeinde wurden 1844 aufgeschrieben

Statuten 1856

Statuten der Gemeinde von 1856

Im Jahre 1844 gaben sich die Dorstener Juden ein Statut und wuchsen damit enger zu einer religiösen Gemeinde zusammen. 1850 wurde das Statut überarbeitet und mit „Statuten des jüdischen Vereins zu Dorsten“ betitelt, die schließlich mit Änderungen 1856 zum „Statut für die Synagogen-Gemeinde zu Dorsten“. Gemeinde und Statut wurde von der preußischen Regierung 1910 rechtlich anerkannt. Schon elf Jahre später mussten auch diese Statuten wegen der Änderung von Wohnortzugehörigkeiten der Juden geändert werden. Die letzte Überarbeitung fand 1932 statt, als sich verschiedene jüdische Gemeinden von der Synagogenhauptgemeinde Dorsten trennten. 1942 wurde die jüdische Gemeinde Dorsten ausgelöscht. Die Statuten von 1844 im Originaltext:

In unserer heutigen Versammlung, worin alle Mitglieder unser Gemeinde gegenwärtig waren, und zu Wahl eines neuen Vorschtehers geschritten wurde, kam folgende Vereinbarung verbindlich zu Stande.

§1 – Jedes Mitglied verpflichtet sich, zur Unterhaltung des Beethauses, namendlich für Miete, Licht, Cantor, Cultur, Unterrichter der Kinder und sonstiegen Armengelder, die zur Unterhalt der Gemeinde nötig sind, seinen ihm zufallenden Beitrag zu entrichten.
§2 – Ein jeder von 13 Jahren alt, und darüber soll zur bestimmten Stunde sich in der Sinnagoge befinnden, und ruhig ohne laut zu Beten, auf seinen Ihm angewiesenen Platz zu bleiben biß der Mismer Kadesch aus ist, sollte Jemand aus der Sinnagoge müssen, so soll derselbe wenn die Thora ausgenommen würd, wieder da sein, und so lange im nötigen fall auch nicht wieder herrausgehen, biß die Thora wieder eingehoben ist, fer gegen handelnde, verfällt in der vereinbarten Strafe von einen oder mehrere Sgr, und bleibt die Entscheidung darüber dem Vorschteher überlassen.
§3 – Wer in der Stadt und nicht Krank ist, soll vor Broche und am Freitag Abend vor Lechodaudi in der Sinnagoge sein, außerdem soll keiner ein Wort mit einem andern schprechen, in allem Beetstunden, was nicht zum Gottesdienst gehört, oder Jemanden durch sonstiege Ausdrücke am Lachen machen, dagegen handelnde wie paragraf 2 in der Strafe.
§4 – Die Eltern verpflichten sich, für Ihre Kinder die Klassiefießierten Gelder zu zahlen, und die vorhergegangene Verpflichtungen zu befolgen.
§5 – Ein Jeder kann für die Ihm klassiefißierten Gelder in der Sinnagoge Mitzwes kaufen, sollte er mer verschulden, wie ihm Klassiefießiert ist, so mus er dieses mer bezahlen, sollte Er wenieger verschulden, so zahlt derselbe, was Ihn Klassiefießiert ist. Sollte einer von den Verheirateten kein Zegen stehen sollen, so soll er nur das recht haben, es an einem Verheirateten zu geben, nich verheiratete sollen kein Zegen stehen.
§6 – Ein Vorschteher würd hiermit, Namens der Gemeinde, befollmachtigt, nebst noch Zwei Mitglieder, die Classivisierung vorzunemen, für aufrechterhaltung, der benannten Vereinbarung, ebenso für Beitreibung sämtlicher Klassievißierten Gelder und soll der Vorschteher gefugt sein, diese Gelder, wenn dieselbe im Wege der güte nicht zu kriegen sind, dieselbe gerichtlich zu verfollgen für Kosten der Gemeinde.
§7 – Im fall der Vorschteher Ez. Heß nicht zu Hause sein sollte, so stellen wir als Stellvertreter, den Herz Wolff.
§8 – Kleine Ausgaben soll der Vorschteher ohne dieselbe Namhaft zu machen allein ausgeben können, bei größere Ausgaben hinngegen sollen die beiden Gewählten herzugezogen werden.
§9 – Der Vorschteher Ez. Heß, Aczebtierte vorstehende Vereinbarung und Verpflichtet sich, über Einname und Ausgabe Rechnung abzulegen und zum Vorteil der Gemeinde bestens zu sorgen. Nach geschehener Vorlesung, und allerseitiege genehmiegung, ist diese Vereinbarung unterschrieben.

Dorsten den 14.ten April 1844. Ez, Heß Vorschteher;   S. N. Eisendrath; Jacob Levi;  Herz Wolff; Salman Michel; David Levi; Jonas Philipp; Salman Meier; Isac Moses

Siehe auch: Religionsgemeinschaften (Artikelübersicht)


Quellen: Wolf Stegemann/Sr. Johanna Eichmann OSU „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“, Dorsten 1989.
Literatur (Auswahl): Wolf Stegemann/Dirk Hartwich (Hg.) „Dorsten unterm Hakenkreuz. Die jüdische Gemeinde“, Bd. 1, 1.- 4. Aufl., Dorsten 1983. – Benno Reicher „Jüdische Geschichte und Kultur in NRW. Ein Handbuch“, Essen 1988. – Werner Schneider „Jüdische Heimat im Vest”. Gedenkbuch“, Recklinghausen 1983. – Jan-Pieter Barbian/Michael Brocke/Ludger Heid „Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gegenwart“, Essen 1999.

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