1921 bis 1923 - Geld im Waschkorb statt im Portemonnaie
Inflation (lat. das „Sich-Aufblasen“; das „Aufschwellen“) ist in der Volkswirtschaftslehre die Bezeichnung für einen andauernden, „signifikanten“ Anstieg des Preisniveaus infolge längerfristiger Ausweitung der Geldmenge. Es verändert sich also das Austauschverhältnis von Geld zu allen anderen Gütern zu Lasten des Geldes: für eine Geldeinheit gibt es weniger Güter, oder umgekehrt: Für Güter muss mehr Geld gezahlt werden, das heißt, sie werden teurer. Um sie bezahlen zu können, musste Geld nachgedruckt werden. Daher kann man unter Inflation auch eine Geldentwertung verstehen. Die Inflation beherrschte Politik, Wirtschaft und den Alltag des kleinen Mannes, dessen Angst vor der Geldentwertung, die auch in der Banken- und Schuldenkrise Deutschlands (und Europa) der letzten und gegenwärtigen Jahre wieder vorhanden war.
Geldentwertung durch Geldvermehrung – aus Hundert wurden Milliarden
Durch ständige Geldvermehrung stieg im Deutschen Reich ab 1921 die Geldentwertung bedenklich an. Während sich durch rapide Preiserhöhungen der Lebensstandard weiter Bevölkerungsschichten verschlechterte, häuften einige Unternehmer durch Spekulationsgeschäfte riesige Vermögen an. Die deutsche Wirtschaft war durch den verlorenen Ersten Weltkrieg in große Schwierigkeiten geraten: Die Umstellung auf Kriegswirtschaft und die fehlenden Investitionen im Bereich der zivilen Produktion bewirkten einen Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung. Zudem hatten die Gebietsabtretungen den Verlust wichtiger Wirtschaftszentren zur Folge. Die Überschuldung des Staates durch Kriegsanleihen verhinderte staatliche Aufträge an die Wirtschaft und die unternehmerischen Aktivitäten wurden durch den Währungsverfall behindert. Entscheidend für die Geldvermehrung war die ungehemmte Finanzierung der Staatsausgaben durch Darlehen der Reichsbank, die damals der Weisungsbefugnis der Regierung unterstand. Die Staatsverschuldung durch die Kriegsanleihen, die im Fall eines Sieges durch die von den besiegten Feinden zu entrichtenden Kriegsentschädigungen zurückgezahlt werden sollten, konnten auch durch Steuererhöhungen nicht ausgeglichen werden. In zahlreichen Städten kam es durch Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel zu Unruhen. Im September 1921 demonstrierten aufgebrachte Holsterhausener vor dem Kommissariat an der Pliesterbecker Straße. Gemessen an den Lebenshaltungskosten betrug die Geldentwertung, die 1918 im Vergleich zum Vorjahr 26 Prozent betrug, 1921 bereits 65 Prozent. Einzelne Unternehmer, besonders im rheinisch-westfälischen Industriegebiet Hugo Stinnes und Friedrich Flick, nutzten die inflationäre Situation aus, indem sie und andere den Erwerb von wertbeständigen Investitionen und Sachwerten durch das immer wertloser werdende Papiergeld beglichen. Durch eine infame Zusammenarbeit der Montanindustriellen, die bereits durch Kriegsgewinne groß geworden waren, wurden Milliarden-Vermögen angehäuft, während die Bevölkerung Not litt.
Zeitungsgeld mit der Karre kassiert und nach Hause gefahren
Auf dem Höhepunkt der Inflation in der zweiten Jahreshälfte 1923 waren die Preise für Nahrungsmittel in kaum vorstellbare Höhen gestiegen. Löhne und Gehälter wurden wöchentlich ausgezahlt und das Geld mittels Waschkörben in die nächsten Geschäfte zum Kauf von Eiern, Butter oder Brot getragen. Die Preise stiegen täglich und auch stündlich. Ein Ei kostete im Juni 1923 rund 800 Mark, im November schon 320 Milliarden Mark. Der monatliche Bezugspreis für die „Dorstener Volkszeitung“ stieg im November 1923 auf 250 Milliarden Mark. Die kassierenden Zeitungsboten fuhren mit der Karre vor, um das Zeitungsgeld zu kassieren. Anzeigen in der Dorstener Lokalzeitung während der Inflation sind interessante Zeugnisse dieser Zeit. Da wird Heu für 100.000 Mark angeboten, kurz darauf eine neue Frisur beim Damenfrisör für 1,5 Millionen Mark. Am 3. Juni 1922 hatte Pfarrer Heming von der Agathakirche für „Kultur und den Unterhalt von Geistlichen“ eine Kollekte in Höhe von 1,4 Millionen Mark im „Klingelbeutel“, eine Woche später für den gleichen Zweck 1,8 Millionen. Am 30. September 1923 machte das Pfarramt von St. Agatha darauf aufmerksame, dass „Tausendmarkscheine nicht mehr von der Kirchenkasse angenommen würden, da sie keinen Wert mehr hätten“. In seine Chronik schrieb Pfarrer Ludwig Heming:
„Übrigens war das so eine Sache mit den Kollekten. Die Sammler kehrten mit gehäuften Körben (die kleinen Körbchen waren längst abgeschafft) in die Sakristei zurück. Im Pastorat wurden dann die Scheine sortiert. Viele Städte und Kreise hatten eigenes Geld (auch Dorsten). Alle diese Scheine wanderten in den großen Wäschekorb, auch die verfallenen großen Scheine, wie also jetzt die Tausendmarkscheine. Und dann musste man möglichst schnell für die übrig gebliebenen guten Scheine Waren kaufen, sonst waren sie schon nach zwei Tagen wieder entwertet.“
Geldentwertung und Lebensmittelpreise im Vergleich
Ein Pfund Brot kostete vor dem Krieg 14 Pfennige, im November 1923 aber 260 Milliarden Mark, nach der Stabilisierung 1924 wieder 22 Pfennige; ein Pfund Butter: 140 Pfennige, dann 6.0000 Milliarden Mark, danach 220 Pfennige; ein Pfund Kartoffeln: 4 Pfennige, dann 5ß Millairden Mark, danach 7 Pfennige; ein Ei: 8 Pfennige, dann 80 Milliarden Marl, danach 11 Pfennige; ein Glas Bier: 13 Pfennige, dann 150 Milliarden Mark, danach 24 Pfennige. Im Vergleich zur Inflation 1923 ist die Währungsreform 1948 als Liquidationsfolge des Zweiten Weltkriegs dagegen wesentlich glimpflicher abgelaufen. Ein Umtausch von 10:0,65 genügte, um die Währung wieder zu stabilisieren.
Geldbündel hinterm Altar in der Stadtkirche versteckt
Anfang November 1923 teilte der Pfarrer von St. Agatha, Ludwig Heming, von der Kanzel den Gläubigen zur „gütigsten Berücksichtigung“ mit, dass sie bei „Kollekten für Kultus und Geistliche keine Scheine unter 500 Millionen Mark mehr abgeben sollten, da diese von den Dorstener Banken nicht mehr angenommen werden würden“. Und in die Chronik schrieb er: „Übrigens wussten die Leute nicht mehr, was sie machen sollten. Manche gingen hin und legten packenweise die verfallenen Scheine hinter die St. Josefstatue. Ich glaube, dass daran der hl. Josef wenig Freude gehabt hat.“
Die Inflation führte zu einer großen Verarmung auch im Mittelstand
Während einige Unternehmer als Spekulanten und „Inflationsgewinnler“ die Geldentwertung ausnutzten und mit wertlosem Geld wertvolle Sachwerte zusammenkaufen konnten, führte die Inflation vor allem beim Mittelstand zu einer Verarmung in großem Umfang. Zur Verschärfung der Geldentwertung trug die Finanzierung des von der Regierung angeordneten „passiven Widerstands“ durch Streiks und Arbeitsniederlegung gegen die Ruhrgebietsbesetzung der Belgier und Franzosen bei. Auch Dorsten war besetzt. Energische Maßnahmen gegen die Inflation sind bis zum endgültigen Zusammenbruch der Währung im November 1923 aus unterschiedlichen Gründen unterblieben: Ein Teil der deutschen Wirtschaft (Exportindustrie) profitierte von den geringen Lohnkosten im Inland und die Reichsregierung wollte durch die desolate Lage im Reich den Siegermächten die deutsche Leistungsunfähigkeit demonstrieren, um die großen Reparationsforderungen abzuwehren. Auch die Kriegsschulden des Deutschen Reiches nahmen durch die Inflation ab. 154 Millionen Mark vom November 1923 hatten nur noch den Wert von 15,4 Pfennigen des Jahres 1914. Im November 1923 war das deutsche Währungssystem nicht mehr funktionsfähig. Es musste stabilisiert werden. Eine Billion Papiermark wurden zu einer Rentenmark, die durch eine vierprozentige Grundschuld auf den deutschen Land-, Forst- und Industriebesitz gedeckt war.
Froh über das Inflationsende
Die Rentenmark war allerdings auch nur eine Übergangslösung. Am 30. August 1924 wurde sie von der Reichsmark abgelöst. Dazu schrieb Pfarrer Heming unter dem 1. Dezember 1923 in seine Chronik: „Aufhören der Inflation. Stabilisierung der Mark. Eine Mark = eine Billion. Vielen kam diese Deflation zu früh, auch unserer katholischen Kirchengemeinde, denn unser Verputz (Innenraum der Kirche) war noch nicht ganz fertig. Die Arbeiten dauerten noch bis Mitte Januar, so dass wir ungefähr mit 1.500 Mark Schulden abschlossen. Trotzdem aber waren wir alle froh, dass endlich diese schreckliche Zeit der großen Aufregungen vorbei war.“
Die alten Währungen (Papiermark, Goldmark) blieben zunächst noch in Umlauf, so dass es nun drei Währungen gleichzeitig in Deutschland gab. Der Geldumlauf war in extreme Höhen gestiegen: Im November 1923 war neben den mehr als 500 Trillionen Buchgeld fast 500 Trillionen Mark Bargeld im Umlauf, dazu kamen rund 200 Trillionen Mark Notgeld der Gemeinden, der Unternehmen und anderer Institute. Die Einführung der Rentenmark bewirkte das Ende der Inflation.