Willkommenskultur

Politiker plappern davon und die meisten Medien übernehmen es

Freundlicher Empfang der Flüchtlinge

Freundlicher Empfang der Flüchtlinge

Von Wolf Stegemann. – Willkommenskultur? Eigentlich sollte dieses Wort zum Unwort des Jahres 2015 gewählt werden. Denn es gibt zumindest in Mitteleuropa keine Willkommenskultur. Gerade am Beispiel des in der geschichtlichen Vergangenheit von Fremden oft heimgesuchten Dorsten lässt sich erkennen, dass sich kein Willkommen als Kultur heranbilden konnte, denn willkommen waren die meisten Fremden nicht. Sie kamen mit Säbel, Musketen und Kanonen. Denn Dorsten fanden sie anziehend, denn hier gab es eine Brücke über die Lippe. Kamen Andersgläubige wie Juden oder protestantische Glaubensbrüder, wurden sie wieder vertrieben oder gar nicht erst aufgenommen. In Dorsten wie auch anderswo. Anderswo ist ganz Mitteleuropa. Hier war nie jemand irgendwie willkommen. Doch Ausnahmen gab es schon. Als Protestanten aus dem katholischen Salzburg vertrieben wurden, folgten sie dem Ruf des Preußenkönigs, der sein weites ostpreußisches Agrarland bevölkern musste und die Zechen im Ruhrgebiet, in Hervest-Dorsten und Holsterhausen brauchen ebenfalls Arbeitskräfte. Sie kamen aus Polen, Sachsen und Österreich, gingen zum Teil wieder, als Zechen schlossen, wie in Holsterhausen „Baldur“. In der „Wirtschaftswunderzeit“ nach dem letzten Krieg brauchte man wieder Arbeitskräfte. Es kamen Italiener, Griechen, Jugoslawen, Spanier, Portugiesen und Türken. Sie waren willkommen, aber nur solange man sie brauchte. Kann man da von Kultur sprechen? Sicherlich nicht! Man wollte sie nicht hier behalten, wie bis heute politisch mehrheitlich immer noch verbissen daran festgehalten wird, dass Einwanderer hier nichts zu suchen haben. Daher hießen hergeholte Arbeitskräfte entlarvend „Gastarbeiter“, weil das Wort „Fremdarbeiter“, wie sie von älteren Deutschen in den 1960er-Jahren auch genannt wurden, durch das Dritten Reich einen negativen Klang hatte. Viele Gastarbeiter blieben, holten ihre Familien nach, was ein Menschenrecht ist. Von einem Willkommen spricht man in Dorsten auch nicht, wenn das Ausländeramt mehrmals Ausländer unrechtmäßig und gesetzwidrig abgeschoben hat und einer nun 70-jährigen Frau seit 30 Jahren die Einbürgerung verweigert – mit Wissen und Zutun der Verwaltungsspitze. Willkommenskultur?

Flüchtlinge in ihrer Not mit Liebesgaben überschüttet

Flüchtlingsabwehr

Flüchtlingsabwehr

Während der Flüchtlingskrise 2015 machten sich die Kanzlerin und Politiker aller Parteien, Fernsehmoderatoren, Nachrichtensprecher und die Printmedien landauf und landab den in Worte gefassten Begriff von der „deutschen Willkommenskultur“ zu eigen und stellen fest, dass es diese in Deutschland gibt – im Gegensatz zu anderen Ländern Europas. Sie sagen das angesichts der Bilder, wo die Bevölkerung den ankommenden Flüchtlingen hilft, sie mit Liebesgaben und Notwendigem regelrecht überschüttet, sie herzlich willkommen heißt. Doch ist das eine gewachsene Willkommenskultur oder eine von Herzen kommende Hilfsaktion, im Augenblick der Sichtbarkeit von Not, Elend und Flucht gezeugt und gezeigt?

Willkommens-Ranking in Europa – gute Ergebnisse für Deutschland

Extreme Flüchtlingsabwehr

Extreme Flüchtlingsabwehr

Noch einmal die Frage: Hat Deutschland eine Willkommenskultur? Zu messen, wie stark die Willkommens- und Anerkennungskultur in europäischen Staaten ist, stellt der von der Europäischen Union entwickelte „Migrant Integration Policy Index“ (MIPEX) dar. Während im Jahr 2015 Österreich vom MIPEX auf Rang 20 und die Schweiz auf Rang 21 (von 38) eingestuft wird, nimmt Deutschland Rang 10 von überwiegend europäischen Staaten ein. Damit stieß Deutschland erstmals in die Top 10 der teilnehmenden Staaten vor. Relativ gute Ergebnisse erzielt Deutschland in den Bereichen „Zugang zur (deutschen) Staatsbürgerschaft“ (3. von 38 Plätzen) und „Arbeitsmarktmobilität“ (4 von 38). Immer noch relativ schlecht bewertet wird Deutschland in den Bereichen „Familienzusammenführung“ (24 von 38), „Gesundheit“ (22 von 38), „Kampf gegen Diskriminierung“ (22 von 38), „Daueraufenthalt“ (19 von 38) und „Bildung“ (16 von 38).

Brandstätte in Rottenburg (Sept. 2015)

Brandstätte in Rottenburg (Sept. 2015)

Deutschland wird von anderen Ländern in der Integrationspolitik inzwischen als Vorbild gesehen. Die deutsche Politik habe es in den vergangenen Jahren geschafft, zahlreiche Verbesserungen für Einwanderer umzusetzen, zum Beispiel die bessere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Was Deutschland im Sinne der so genannten „Willkommens- und Anerkennungskultur“ nicht so gut gelungen und wo daher vorrangig Nachholbedarf erforderlich sei, ist der Familiennachzug von Menschen mit Migrationshintergrund und eine Erleichterung des Erwerbs eines dauerhaften Aufenthaltsstatus. Der Bereich Gesundheit und  Bildung müsse verbessert sowie entschiedener die Diskriminierungen auf der Grundlage der ethnischen Herkunft und der Religion bekämpft werden.

Willkommenskultur im Sprachgebrauch

Die Kritik an dem Begriff „Willkommenskultur“ zielt auf verschiedene Sachverhalte ab. Es wird kritisiert, dass Willkommensbekundungen problematische Färbungen aufwiesen, dass die Sprecher bzw. Schreiber mehr versprächen, als sie (auch bei gutem Willen) halten könnten, und dass die Bekundungen nicht ernst gemeint seien. Für viele Kritiker ist das Wort „Willkommenskultur“ eine von den „Schaumgummi-Vokabeln“, die eine freie Anschauung der vielfältigen und konfliktreichen Wirklichkeit  standardisieren und vereinheitlichen sollen, die rein begriffliche Beschwörung einer schönen neuen Welt, in der nur Böswillige und hoffnungslos Rückständige den gesellschaftlichen Frieden stören.

Willkommen-Plakate

Willkommen-Plakate

Übersetzungen des Wortes „Willkommen“ findet man an vielen Orten, die von Ausländern oder Touristen besucht werden, um Menschen aller Nationalitäten willkommen zu heißen, beispielsweise Touristen an Flughäfen in der Gewissheit, dass sie wieder abfliegen. Doch wer „Herzlich Willkommen!“ schreibt, denkt somit schon an „Auf Wiedersehen!“ Bereits der Philosoph Günther Anders schrieb zur Verwendung des Kulturbegriffs in seinem 1980 erschienenen Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“:

„Wer betont, den ,Sektor Kultur’ zu pflegen, […] der weist sich als Barbar aus, weil […] er durch diese Isolierung des Sektors anzeigt, dass er das menschliche Leben als etwas primär Vorkulturelles unterstellt.“

Demnach ist der Begriff auch fragwürdig, weil er den menschlichen Umgang mit Flüchtlingen nicht zur Selbstverständlichkeit erklärt, sondern zu etwas Besonderem erhebt.

Reichweite des Willkommensversprechens

Der Sprachforscher Klaus Bade kritisiert:

„Bei der Willkommenskultur-Rhetorik mit ihren vielen Verbesserungsvorschlägen geht es in Wirklichkeit meist um die zweifelsohne überfällige Willkommenstechnik bei Behörden. Aber es geht noch lange nicht um die nötige Wende zu einer gesellschaftlichen und insbesondere kollektivmentalen Willkommenskultur im Land.“ Denn „Deutschland war lange ein in seiner Selbsterkenntnis verspätetes Einwanderungsland wider Willen. Es litt an der aus der defensiven Erkenntnisverweigerung seiner politischen Eliten resultierenden realitätsfernen Selbstdefinition als Nicht-Einwanderungsland.“

Für den „Spiegel“ ist die entscheidende Frage, „wie viel Diversität die deutsche Gesellschaft am Ende wirklich“ aushält. In Sachen „Willkommenskultur“ stellen die Autoren fest:

„Einwanderer werden in Deutschland weiterhin entweder als Armutsmigranten abgetan oder gefürchtet oder von der Wirtschaft als schnelle, billige Lückenfüller für den Arbeiter- und Fachkräftemangel missverstanden. Viel Gutes kann aus solchen verkürzten Blickweisen nicht folgen.“

Georg M. Hafner von der „Jüdischen Allgemeinen“ stellt einerseits fest: „Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus stecken in einem Zwölfjahrestief.“ Das bedeute  andererseits, „dass im Westen der Republik im Schnitt 20 Prozent der Bürger ausländerfeindlichen Aussagen zustimmen. […] In Sachsen-Anhalt sind sogar mehr als 40 Prozent fremdenfeindlich.“ Hafner fragt sich: „Wie sähen die Zahlen erst aus, sollte das Land nicht mehr so prosperieren wie derzeit und Sündenböcke brauchen?“

Ernsthaftigkeit der Willkommensbeteuerung? Vielmehr Abschottung

Kein Willkommen, eine der vielen Brandstiftungen

Kein Willkommen, eine der vielen Brandstiftungen

Insbesondere im Zusammenhang mit geplanten „Willkommenszentren“ für Flüchtlinge, die auf Vorschlag europäischer Politiker außerhalb der Europäischen Union (etwa in Nordafrika) errichtet werden sollen, unterstellen viele Kritiker, dass es gar nicht darum gehe, Flüchtlinge bereits vor der Fahrt übers Mittelmeer „willkommen zu heißen“, sondern darum, im Gegenteil den Zustrom von Flüchtlingen nach Europa einzudämmen. Derartige Zentren stehen auch unter den Begriffen „Asylzentren“, „Auffanglager“ oder „Aufnahmezentren in Nordafrika“ in der politischen Diskussion. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, geht die Forderung nach einer Willkommenskultur nicht weit genug: „Wir brauchen im Grunde […] keine Willkommenskultur. Wir brauchen vielmehr eine Kultur der Teilhabe.“ Ihr Appell kann in dem Sinne interpretiert werden, dass auch ein „nachholendes Willkommen“ erforderlich sei, um der Entstehung einer „Gastgeber-Gast-Dichotomie“ zu entgehen, wie sie nach der Welle von Einwanderungen von Arbeitsmigranten bis 1973 entstanden sei.

Deutschlands bedeutendster Künstler Gerhard Richter (geb. 1932) hat das Vorgehen von Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck in der Flüchtlingskrise 2016 kritisiert. „Zum Beispiel die Parole von der Willkommenskultur, die wir eingeführt haben mit unserem Präsidenten. Die ist so verlogen.“


Siehe auch:
Integration (Artikelübersicht)

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