Tönsholt

Vom Gefangenenlager zur schmucken Waldsiedlung

Siedlung Tönsholt 2012; Foto: Wolf Stegemann

Siedlung Tönsholt 2012; Foto: Wolf Stegemann

Von Wolf Stegemann – Die in einem Wäldchen zwischen Dorsten und Kirchhellen beinahe versteckt liegende Siedlung Tönsholt war bis in die 1990er-Jahre hinein ein schwieriges Erbe, das die Stadt Dorsten im Zuge der kommunalen Neuordnung 1975 angetreten hatte. Heute gehört Tönsholt zum Stadtteil Altendorf-Ulfkotte, der 1975 ebenfalls nach Dorsten kam. Da die Häuser räumlich abseits liegen, wurden sie in der stadtplanerischen Konzeption halb vergessen, wenn nicht ganz. Dies wurde der Stadt auch leicht gemacht, denn die inzwischen renovierten Häuser des früheren Kriegsgefangenenlagers waren und sind Privatbesitz. Der größte Teil gehörte der Hüls AG in Marl, die sie 1992 an den Dorstener Spediteur Nagel verkaufte. Andere Häuser gehörten der Erbengemeinschaft Diegner in Dorsten. Heute werden die 22 Immobilien von der Immobiliengruppe Altro Mondo für die Deutsche Grundgesitz AG (DEGAG) verwaltet. Immer wieder werden Beschwerden über bauliche Missstönde laut. 2018 kontrollierte die Stadt die Wohnanlage. In sieben Wohnblocks leben etwa 300 Bewohner, die mit der Kneipe „Zur Traube“ eine eigene Gastwirtschaft hatten. 2004 machte die althergebrachte Gaststätte Habsch zu. Den Namen hat die Siedlung vermutlich vom Bereich, in dem sie liegt. „Holt“ = Holz, Busch und „Töns“ = Tönnes (Antonius) Anton: also „Antonius Busch“. In der Feldmark stand das Antonius-Kapellchen. An ihm wurde während der Feldprozession  der Segen gegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Antonius-Statue durch eine neue ersetzt. Im Ortsteil Ekel steht heute noch nahe Schwickings Busch der Kotten Tönnes. So dürfte die Antonius-Verehrung in diesem Raum auch auf den Namen des Waldgeländes Tönsholt Einfluss gehabt haben.

Bewohner wollten nach Dorsten eingemeindet werden

Siedlung Tönsholt, Foto: JF

1950 haben 123 Familien von 150, die in der Siedlung „Tönsholte“, wie sie damals noch genannt wurde, ein Schreiben an die Stadt Dorsten gerichtet, dass sie von der Gemeinde Kirchhellen nach Dorsten umgemeindet werden wollten. Sie begründeten ihren Wunsch damit, dass Tönsholte wirtschaftlich nach Dorsten tendiere. Zudem sei die Entfernung nach Dorsten weitaus geringer als nach Kirchhellen. So benötige ein Fußgänger zum Amt Kirchhellen und zurück vier Stunden, zum Amt Hervest-Dorsten nur 1 ½ Stunden. Der Haupt- und Personalausschuss der Dorstener Stadtvertretung vertrat den Standpunkt, dass im vorliegenden Fall im Interesse des guten Einvernehmens zwischen den Gemeinden Dorsten und Kirchhellen entschieden werden sollte, aber nicht im Interesse der dort wohnenden Flüchtlinge. Außerdem müsse Kirchhellen den ersten Schritt zur Umgemeindung machen. Dann würde sich die Stadt gegen eine Eingemeindung nicht sträuben, die unter diesen Umständen 1950 dann doch nicht zustande kam. Jahrelang befasste sich die Stadt mehr oder weniger mit dem Problem der zerfallenden und bewohnten Häuser von Tönsholt – sie war ja nicht Eigentümerin. Abriss oder Erhaltung war mehrmals Thema im Rat der Stadt Dorsten und Anlass für Informationsrundgänge der Politiker, wobei die erhaltende Erneuerung immer Vorrang hatte. Doch die Stadt konnte nicht viel erreichen.

„Bei uns ist die Welt noch in Ordnung“

Die Mieter waren (sind) eine eingeschworene Gemeinschaft, die soziales Miteinander pflegte, wenn manche der Mieter dies hin und wieder auch mit Fäusten zum Ausdruck brachten. 1980 führte die Stadt eine Mieterbefragung durch. 87,7 Prozent waren der Meinung, dass die Siedlung saniert werden müsste, nur 2,7 Prozent sprachen sich für den Abriss aus. Damals wollten 75,3 Prozent der Bewohner bei Sanierung eine Mieterhöhung in Kauf nehmen. Aber für 80 Quadratmeter Wohnfläche wollte man nicht mehr als 150 DM Miete zahlen, für 140 Quadratmeter bis zu 185 DM. Bei diesen Mieterwartungen war das Zögern der Eigentümer verständlich, die Siedlung zu sanieren. Weitere Verzögerungen traten ein, als der Sachbearbeiter der Dorstener Stadtverwaltung für Tönsholt erkrankte und Jahre darauf starb. Damit war das „Fragment Tönsholt für die Stadt abgeschlossen“. Erst 1985 befassten sich Ratsgremien wieder mit dem Thema. Das alles focht die meisten Mieter nicht an. „Bei uns ist die Welt noch in Ordnung“, war deren zentrale Aussage, „auch mit Ausländern haben wir keine Probleme”. Das schlechte Image, das Tönsholt über Jahrzehnte hinweg hatte, war sicherlich auch der Geschichte dieser Siedlung geschuldet, die 1942 begann.

Kriegsgefangenenlager für Italiener

Kriegsgefangenenlager für Italiener

Relikte einer vergangenen Zeit

Die barackenähnlich aufgereihten Steinhäuser sind Relikte aus dem Dritten Reich. Die auch heute noch erkennbare Insellage der Siedlung war gewollt. Denn Tönsholt ist als Lager für italienische Kriegsgefangene, die in den Essener Rüstungswerken Krupp arbeiten mussten, von der Organisation Todt errichtet worden. Russische Ostarbeiter, die sich erst selbst Holzbaracken als ihre Unterkunft bauen mussten, waren als Bauarbeiter eingesetzt. Zuerst sollte das Lager auf einem Feld des Bauern Schulte-Beckum erstehen. Doch ein orkanartiger Sturm verhinderte dies, so dass Tönsholt auf der Fläche eines Waldstücks errichtet wurde, auf dem der Orkan die Bäume umknickte. Es gehörte der Familie von Metternich auf Haus Beck. Tönsholt eignete sich bestens für ein Gefangenenlager, denn die direkte Bahnlinie führte durch den Wald nach Essen. Daher wurde eine eigene Gleisanbindung über Tönsholt zu Krupp in Essen gelegt. Zwischen hohen Gräsern ist sie heute noch sichtbar. Westlich der Bahnlinie entstanden etwa sechs Holzbaracken, in denen 150 russische Männer, Frauen und Kinder untergebracht waren, dazu etliche belgische und holländische Zwangsarbeiter. Ein Teil dieser Menschen musste das Lager Tönsholt bauen, ein anderer Teil bei Krupp in Essen arbeiten. Kaum war das erste Gebäude des Gefangenenlagers Tönsholt errichtet, bezogen Angehörige der gefangenen italienischen Badoglio-Armee das Haus. Die Fertigstellung anderer Häuser folgte. Durften sich die Russen des Barackenlagers in einem festgelegten Radius um das Lager frei bewegen, lebten die Italiener in Tönsholt streng bewacht hinter Stacheldraht. Täglich fuhren sie zum Arbeitseinsatz nach Essen. Während die Italiener gut verpflegt wurden, mussten die Russen hungern. Die Kinder der russischen Zwangarbeiterinnen magerten zu Skeletten ab, hatten aufgedunsene Bäuche und bettelten in der Umgebung des Lagers um Brot.

Landesschützen erschossen zwei Italiener, die Löwenzahn pflückten

Als die Bewachung des italienischen Gefangenenlagers später nicht mehr so streng gehandhabt wurde, entfernten sich zwei Italiener, um auf einer nahe gelegenen Wiese Löwenzahn zu sammeln. Beide wurden von den Landesschützen, die das Lager bewachten, erschossen. Das Essen für die Kriegsgefangenen kam täglich aus der Küche des Lazaretts Maria Lindenhof. Tote Kriegsgefangene wurden auf dem Friedhof Maria Lindenhof der Barmherzigen Brüder bestattet oder in Kirchenhellen. Die amtlichen Todesursachen lauteten 1944: Schädelbruch, Unterernährung, Freitod, Tuberkulose. 1958 wurden 323 Italiener, die zwischen 1944 und 1945 in Dorsten gestorben waren, auf den italienischen Zentralfriedhof in Hamburg umgebettet; 34 lagen auf dem Friedhof im Dorsten, 94 auf dem Kommunalfriedhof in Hervest und 195 auf dem Ehrenbegräbnisplatz am katholischen Friedhof in Hervest. Die Häuser für Gefangene wurden bis Kriegsende 1945 gebaut. Danach zogen amerikanische Soldaten ein. Dann wurden die russischen Ostarbeiter zum Transport in ihre Heimat weggebracht, danach bewohnten deutsche Ostflüchtlinge die Häuser, von denen einige wohnen geblieben sind und deren Nachkommen heute noch dort leben.

Hotelbau in der Nähe des Film-Parks Bottrop blieb Spekulation

Frühere Gaststätte

Frühere Gaststätte

Im Jahre 1992 übernahm die Spedition Nagel den größten Teil der Häuser in der Siedlung. Die Nähe zum Movie-Filmpark in Bottrop hat wohl Spekulationen Auftrieb gegeben, in Tönsholt ein Hotel einzurichten. Sollte diese Geschäftsidee bestanden haben, dann wurde daraus nichts. 2011 war die Siedlung Tönsholt Thema im Rat, als über Neubaugebiete in Altendorf-Ulfkotte debattiert wurde, die von der CDU positiv gesehen wurde. Anders die SPD. Deren Fraktionschef sagte, dass dem Bevölkerungsschwund durch Neubaugebiete zu begegnen, „ein zweifelhafter Ansatz“ sei. Vor der Ausweisung von Bauland solle sich die Stadt lieber um bestehende Siedlungen kümmern, zum Beispiel um die kleine Siedlung Tönsholt, die ein vernachlässigter und völlig abgekoppelter Ortsteil sei, in dem 300 Menschen wohnten“ (DZ vom 31. April 2011).

Stadt behandelt ihren Stadtteil weiterhin stiefmütterlich

Im Zuge der städtischen Sparmaßnahmen kündigte Mitte 2012 Bürgermeister Lambert Lütkenhorst an, dass der Schulbus, der täglich rund 40 Kinder von Tönsholt in die vier Kilometer entfernte Schule nach Altendorf-Ulfkotte bringt, ersatzlos gestrichen werden soll. Dagegen protestierte der Schulleiter der Kardinal-von-Galen-Schule in Altendorf: „Bei aller Spareuphorie darf die soziale Verantwortung für die Menschen, die am Rande unserer Stadt leben, nicht vergessen werden.“ Denn die Strecke Tönsholt-Altendorf ist nicht an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden. Der Schulweg zur Altendorfer Grundschule, so der Schulleiter in seinem Protestschreiben, sei ca. vier Kilometer lang, führe an uneinsehbaren Waldstücken vorbei und sei größtenteils unbeleuchtet. Der denkbare alternative Weg zur Agathaschule (Fußweg und Bus) sei wegen mangelnder Beleuchtung und fehlender Sicherheit ebenfalls keine gute Lösung.

Im Zuge der Diskussion über Sparmassnahmen der Stadt Anfang 2013 wurde folgendes Modell entwickelt: Die Eltern zahlen zunächst selbst für die Busfahrten in den Kindergarten und in die Hauptschule nach Altendorf-Ulfkotte. Das Altendorfer Busunternehmen Kremerskothen wird  nicht nur die Fahrzeuge stellen, sondern organisiert auch die Sonderfahrten. Nach städtischer Kalkulation bliebe am Ende im teuersten Fall eine Lücke von 18.000 Euro, im günstigsten könnten es nur 15.000 Euro sein. Die Stadt würde diesen Betrag übernehmen. Damit spare sie nicht nur die bisherigen 65.000 Euro für den Sonderbus, sondern auch Investitionen in die Verkehrssicherheit des Schulwegs und brauche den Eltern auch keine Wegstrecken-Entschädigung zahlen. Diese wäre fällig, wenn sie ihre Kinder selbst zur Schule bringen müssten.

Blick in die Siedlung; Foto: Wolf Stegemann

Blick in die Siedlung; Foto: Wolf Stegemann

Bürgerschaftliches Engagement: Lösung gefunden

Seit Schuljahresbeginn 2013 bringt ein Bürgerbus die Kinder morgens aus Tönsholt zum Kindergarten und zu den Schulen und holt sie nach der 4. und 6. Stunde wieder ab. Der Förderverein der Kardinal-von-Galen-Schule hat die Trägerschaft und auch das finanzielle Risiko der Aktion übernommen, da sich die Stadt aus Sparsamkeitsgründen von der Beförderung der Schulkinder aus Tönsholt zurückgezogen hatte. Doch zahlt sie einen Zuschuss an den Trägerververein in Höhe von 18.000 Euro. Ohne bürgerliches Engagement  würde der Schulbus der Stadt jährlich rund 100.000 Euro kosten bzw. die Kinder müssten kilometerweit zu Fuß gehen. Die Finanzierung des Bürgerbusses ist bereits für 2014 gesichert. 120 Euro zahlen die Eltern pro Jahr, der Förderverein deckt den Rest mit Spenden und Sponsoren. Der Bus fährt über das Hohe Bram nach Tönsholt – ZOB – Stadtsfeld – über den Polsumer zur Weg zur Kardinal-von-Galen-Schule – Agathaschule – Pestalozzischule.

Bürgerbus nimmt Kinder bis zur 13. Klasse mit

Neu am Bürgerbus ist, dass er alle Kinder und Jugendlichen vom Kindergartenalter bis zur 13. Klasse in Tönsholt „einsammelt“. Der Bus fährt die erste Haltestelle um 7 Uhr morgens an, alle Schüler schaffen es also pünktlich bis zur ersten Unterrichtsstunde. Er bringt die Schüler der weiterführenden Schulen zum ZOB, von wo aus sie auch weiter nach Marl kommen, die Grundschüler zur Kardinal-von-Galen, zur Agatha- und zur Pestalozzi-Schule. Nach der vierten und nach der sechsten Unterrichtsstunde werden die Schüler wieder abgeholt.


Quelle: Teils Ute Hildebrandt-Schute „Kinder aus Tönsholt fahren mit dem Bürgerbus zur Schule“ in WAZ vom 11. Oktober 2013

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