Ruhrfestspiele

So fingen sie Recklinghausen an: „Kohle für Kunst – Kunst für Kohle“

Ruhrfestspiele 1949

Eröffnung der Ruhrfestspiele im festlich geschmückten Städtischen Saalbau 1949

Als nach der nationalsozialistischen Knebelung und Zensur der Kunst der Hunger nach  Literatur und Theater, Kunst und Kultur in der Nachkriegszeit groß war, hatten auch verschiedene Dorstener Bildungsanbieter Fahrten zu Theateraufführungen der Ruhrfestspiele auf dem Programm, was mitunter zu konkurrierenden Streitigkeiten führte.

Kohle aus Recklinghausen für die Hamburger Theater

Der Ursprung der Ruhrfestspiele, das älteste Theaterfestivals Europas, liegt in einem Akt der Solidarität, als Bergleute der Zeche König Ludwig 4/5 im harten Winter 1946/47 Kohle für die Hamburger Theater an der Besatzungsmacht „vorbeischleusten“. Die Hamburger bedankten sich mit Theaterspiel im Städtischen Saalbau Recklinghausen. Daraus wurde eine Tradition. Ab 1949 beteiligten sich der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Stadt Recklinghausen und das Land NRW an den „Kulturtagen der Arbeit“. Seither haben sich die Ruhrfestspiele zu einem richtungweisenden Theaterfestival entwickelt, ohne ihre kulturellen Wurzeln aus den Augen zu verlieren. Bei der Eröffnung der Festspiele 1947 schlug Hamburgs Bürgermeister Max Brauer in seiner Rede eine Brücke von der Hansestadt zum Ruhrgebiet:

„Ich kann mir eine andere und neue Art der Festspiele vorstellen. Festspiele nicht nur für Literaten und Auserwählte, sondern Festspiele inmitten der Stätten harter Arbeit. Ja, Festspiele im Kohlenpott vor den Kumpels. Ja, Festspiele statt in Salzburg in Recklinghausen.“

Im Jahr 1955 wurde zum ersten Mal ein Stück von Bert Brecht aufgeführt

Briefmarke 1996Das Programm war in den ersten Jahren von klassischem Theaterrepertoire und populären Opern geprägt. 1952 kam mit dem Thornton Wilder-Stück „Wir sind noch einmal davongekommen“ zum ersten Mal Gegenwartstheater auf den Spielplan. Mit dem Gastspiel „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ der Städtischen Bühnen Frankfurt wurde 1955 erstmals ein Stück von Bertolt Brecht aufgeführt. Ebenso wichtig wie die Aufführungen im Saalbau waren die Kontakte zwischen den Theaterleuten und den Arbeitern. Damit die Arbeiter auch tatsächlich einen Großteil des Publikums stellten, wurden die Preise niedrig gehalten und zwei Drittel des Kartenangebots über die Gewerkschaften vertrieben. Als der Spielort Saalbau den technischen Ansprüchen nicht mehr gerecht wurde, errichtete die Stadt Recklinghausen mit bundesweiter finanzieller Unterstützung das Ruhrfestspielhaus auf dem Hügel des Stadtgartens (Grundsteinlegung 1960, Eröffnung 1965). Nach zunehmender Kritik wurde das Repertoire in den 1960er/70er-Jahren politischer. Das Rahmenprogramm wurde außerdem um das „junge Forum“, die Kulturtage und das Kulturvolksfest am 1. Mai ergänzt. – Foto: Briefmarke 1996.

Reform der Festspiele zum Europäischen Theater

Die Ruhrfestspiele wurden 1990/91 zum Europäischen Theater reformiert. Der neue Festspielleiter Hans Günther Heyme legte besonderen Wert auf die Zusammenarbeit mit ausländischen Theatern. Damit sollte die „Kultur als das gemeinsame Erbe der Nationen zwischen Atlantik und Ural als Basis Europas angesehen werden“ und dem „wachsenden Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit“ entgegenwirken. Dass es dem ambitionierten Festival gelingt, Qualität zu präsentieren und zugleich ein möglichst breites Publikum zu erreichen, belegen die jährlich mehr als 75.000 Besucher. 1998 wurde das Ruhrfestspielhaus für knapp 20 Millionen Euro zu einer Kongress- und Tagungsstätte umgestaltet. Die 68. Ruhrfestspiele im Jahr 2014 haben neue Rekorde aufgestellt. Die 99 Produktionen mit 306 Vorstellungen wurden von 82.789 Besuchern gesehen. Das waren zwar rund 3.000 Besucher weniger als im Vorjahr, weil 2013 über 6.500 Gäste allein zum Abschlusskonzert von den „Fantastischen Vier“ gekommen. Für das Finale  mit „Jupiter Jones“ sind nur 3.500 Karten verkauft worden. Auch für das Fringe-Festival 2014 meldete Intendant Frank Hoffmann mit 13.100 Zuschauern einen Besucherrekord (3.400 mehr als im Vorjahr). Die Ruhrfestspiele beleben die Stadt Recklinghausen. Neben dem Festspielhaus werden stets viele weitere Schauplätze wie Zelte und Industriehallen bespielt. Das zeigen die Mimen 2017 mit 108 Produktionen an 21 Spielstätten.

Die 71. Spielzeit im Jahr 2017 befasst sich mit den Ängsten der Menschen

Was bewegt die Menschen, ist 2017 eine Kernfrage der Recklinghäuser Theatermacher. Frank Hoffmann, bis 2018 noch Intendant der Ruhrfestspiele, kennt eine Antwort: Angst in Europa. Bei der Programmvorstellung zu 71 Spielzeit des Festivals 2017 sagte er: „Wir willen mit dem Ganzen zu tun haben, mit dieser infernalischen Realität.“ Daher bieten die Künstler ihre Strategien, um sich Selbstzweifel, Chaos und Umbrüchen zu stellen.

Intendant Frank Hoffmann scheidet nach 14 Jahren aus dem Amt

Dr. Frank Hoffmann

Dr. Frank Hoffmann ist seit September 2004 Festspielleiter der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Diese müssen sich einen neuen Intendanten suchen. Festspielleiter Dr. Frank Hoffmann wird 2018 aus persönlichen Gründen aufhören. Hoffmann ist seit 2004 Intendant der Ruhrfestspiele, so lange wie niemand zuvor. Unter ihm hatte sich die Zahl der Besucher um knapp 60.000 auf 80.000 erhöht. Einen Nachfolger gab es Anfang 2017 noch nicht. Frank Hoffmann wurde 1954 in Luxemburg geboren, studierte in Luxemburg und Heidelberg Germanistik, Romanistik und Philosophie, promovierte 1983 in Heidelberg über eine von Michel Foucault ausgehende Philosophie des Theaters und ist seit 1988 Inhaber einer Professur für Regie an Konservatorium in Luxemburg. Die Zeitschrift „Theater heute“ nannte ihn 1990 als besten Nachwuchsregisseur und ein Jahr darauf bekam Frank Hoffmann einen Preis für die beste Regie bei Festival in Teheran, wo der seinen Spielfilm „Schacko Klak“ zeigte. 1993 wurde seine Produktion „Geschichten aus dem Wienerwald“ am Schauspiel Bonn als beste Inszenierung des Jahres in NRW ausgezeichnet; zwei Jahre später bekam er den „Prix Lions“ für theatralisches Schaffen verliehen. Nach Eröffnung des „Theatre National Du Luxembourg“ übernahm der die Leitung des Hauses als Intendant und gründete im Jahr 2000 das erste Luxemburger Theaterfestival im Zelt unter dem Titel „Comédiens-Schauspieler“. .Krank Hoffmann wurde zu vielen nationalen und internationalen Festivals eingeladen, darunter das „Bonner Bienale“, die „Mannheimer Schillertage“, „Ibsen-Festival in Oslo, das Festival der Europäischen Theaterkonvention Stockholm und das Strindberg-Festival in Stockholm wie auch Festivals in Prag, Spanien, Rumänien und Bulgarien. Er schrieb die Stücke „Die Beteiligten oder ein sauberes Land“, „Die Arbeit der Frauen“ und „Die Verlorenheit der Bauern auf dem Feld“ und gab sie unter dem Titel „Trilogie der Wut“ 1985 in Luxemburg heraus.

Geschätzte 55 Millionen Euro für die Komplettsanierung

Die notwendige und anstehende Komplettsanierung des Ruhrfestspielhauses wurde Ende 2018 auf rund 55 Millionen Euro beziffert. Die ermittelten Kosten verteilen sich in der Hauptsache auf die Bereiche Hochbau (13 Mio. Euro), Technische Gebäudeausrüstung (11 Mio. Euro) und Bühnentechnik (14 Mio. Euro). Wobei es für Letzteres zu 90 Prozent Bundesmittel herangezogen werden können. In der jüngeren Vergangenheit ist schon eine Menge Geld in den Kulturtempel gesteckt worden. In den vergangenen Jahren waren das jeweils 500.000 Euro, ab sofort wird diese Summe auf 900.000 Euro erhöht. Auch die Vestische Cultur- und Congress-Zentrum (VCC) GmbH als Betreiber hatte aus ihrem Budget in den vergangenen zehn Jahren 1,62 Mio. Euro investiert. Eine Sofort-Maßnahme, die noch aus dem Konjunkturpaket III bezahlt wird, ist die Erneuerung der Natursteinfassade. Deren Aussehen wird sich minimal verändern, weil der Steinbruch, aus dem die alten Platten stammten, inzwischen geschlossen ist. Sicher ist aber, dass durch eine zusätzliche Wärmedämmung pro Jahr Energiekosten in Höhe von 34.000 Euro eingespart werden könnten. Außerdem wird demnächst ein neues Notstromaggregat eingebaut. Immerhin: Der aktuelle Betrieb im Ruhrfestspielhaus ist nicht gefährdet – und auch die Festspiele 2019 können problemlos durchgeführt werden.

Schwarzes Literaturfestival 2022 mit Sharon Dodua Otoo

Die Schriftstellerin, Herausgeberin und politische Aktivistin Sharon Dodua Otoo (Foto) wird nicht nur die Eröffnungsrede der Ruhrfestspiele halten, sondern ganz sicher auch mit „Resonanzen“ für Furore sorgen. Sie ist Preisträgerin des berühmten Ingeborg-Bachmann-Preises, setzt mit ihrem Schreiben neue Maßstäbe und war schon im letzten Jahr bei den Ruhrfestspielen zu Gast. 2022 hält die Schriftstellerin, Herausgeberin und politische Aktivistin Sharon Dodua Otoo die Eröffnungsrede für das Festival vom 19. bis 21. Mai – und wird mit „Resonanzen – Schwarzes Literaturfestival“ zudem sicher für Aufsehen sorgen. Ziel des Festivals ist es, zu einer wertschätzenden Auseinandersetzung mit Schwarzer deutschsprachiger Belletristik beizutragen, die über Schwarze Communities hinausführt.
Die 1972 in London geborene, heute in Berlin lebende Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin setzt mit ihrem Schreiben neue Maßstäbe: Formal und inhaltlich bricht sie Sprech- und Denkweisen auf und befragt damit vermeintlich Gesetztes. Sie überschreitet sprachlich und erzählerisch Grenzen. Sie schafft Bilder und Räume, die das Leben mit neuer Klarheit sehen lassen. Bei „Resonanzen¨– Schwarzes Literaturfestival“ im Festspielzelt auf dem Grünen Hügel, einem Festival im Festival, geht es um Schwarze deutschsprachige Belletristik, die eine lange, beachtliche Tradition hat. Vom ersten Roman des Schwarzen deutschen Autors Dualla Misipo zum Ende der Weimarer Republik bis hin zu aktuellen Titeln Schwarzer Autoren und Autorinnen, die eine immer größere Wirkung erzielen.

Ruhrfestspiele 2023 mit Kulturvolksfest auf dem Grünen Hügel begonnen

Mit der Deutschlandpremiere des englischsprachigen Stücks „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ begannen am 1. Mai in Recklinghausen die Ruhrfestspiele 2023. Zur Eröffnungspremiere konnte Intendant Olaf Kröck zahlreiche prominente Gäste aus Politik, Kunst- und Kulturszene begrüßen. Darunter Schauspielerin Christine Sommer, Landrat Bodo Klimpel, Bürgermeister Christoph Tesche, den Bundestagsabgeordneten Frank Schwabe und die Landtagsabgeordnete Anna Teresa Kavena. Bereits am ersten Tag waren Zehntausende Menschen zum Kulturvolksfest auf den Grünen Hügel gezogen. Bis zum 11. Mai wurde Theater, Lesungen, Kabarett, Musik und vieles mehr angeboten. Spielstätten waren das Ruhrfestspielhaus, die Halle König Ludwig 1/2, das Theater Marl, die Sparkasse Vest Recklinghausen und die Kunsthalle Recklinghausen. Intendant Olaf Kröck ordnete die 2023er-Ruhrfestspiele in das Weltgeschehen ein: „Es ist unruhig in der Welt. Es herrscht seit einem Jahr Krieg in Europa. Der menschengemachte Klimawandel zeigt immer deutlicher Auswirkungen. Im Iran und in Afghanistan gehen mutige Frauen für ihre Rechte und Freiheiten auf die Straße und riskieren dabei alles. Auch hierzulande wächst der gesellschaftliche Druck. Aber das Erdbeben in Syrien und in der Türkei hat gezeigt, dass die Menschen in Europa weiterhin zu Solidarität bereit sind. Kunst kann die Herausforderungen der Welt alleine nicht lösen, kann aber Teil einer Lösung sein – kann Fragen stellen, kann Raum für Begegnung und respektvolles Miteinander sein, kann Ungesehenes sichtbar, Leises hörbar, Unverständliches spürbar machen, kann respektvoll und solidarisch sein.”

Alois Banneyer verließ nach 33 Jahren die Festivalbühne

Der Theaterpädagoge und Projektkoordinator Alois Banneyer, gebürtiger Coesfelder, verließ 2023 nach 33 Jahren die Festivalbühne der Ruhrfestspiele Recklinghausen. Alois Banneyer, war zuerst in der Freien Theaterszene aktiv, spielte von 1982 bis 1988 am Westfälischen Landestheater beim Kinder- und Jugendtheater. Nach zwei Jahren an diversen Theatern in Köln und Münster und kam 1990 zu den Ruhrfestspielen. Ihm gelang es, im Jahr 2004 junge Menschen aus 25 europäischen Ländern nach Recklinghausen zu einem Großprojekt nach Recklinghausen zu holen. 2019 verlieh ihm der frühere Intendant Hansgünther Heyme den „Otto-Burmeister-Ehrenring“ der Ruhrfestspiele. Intendant Olaf Kröck „Mit Alois Banneyer haben wir direkt einen ganz dicken Schlüsselbund zum Leben der Leute im ganzen Kreis bekommen.“

Einzigartiges Kulturwerk – Kommentar von Jana Neumann

Dass die Fördertürme der Zeche König Lud­wig IV. und V. in Recklinghausen-Suderwich den Hamburgern auf ihrer strapaziösen Lkw-Fahrt ins Ruhrgebiet zuerst auffielen – war es ein Zufall? War es Fügung?
Zweifellos kann man sagen, dass dieser Akt der Solidarität bis heute Erfolgsgeschichte schreibt. Sicherlich haben, wie das Ruhrgebiet auch, die Ruhrfestspiele ihre Höhen und Tiefen, Krisen und Umbrüche erlebt. Aber sie wurden stets über­wunden, und so haben sich die Ruhrfestspiele zu einem richtungsweisenden Theaterfestival ent­wickelt, ohne ihre kulturellen Wurzeln aus den Augen zu verlieren.
In der Solidarität von Kunst und Arbeit wurzelt, seit nunmehr fast 65 Jahren, das kulturpolitische Unternehmen „Ruhrfestspiele“. Durch die solida­rische Hilfe zwischen Bergleuten und Künstlern sind die Ruhrfestspiele ein einzigartiges Kultur­werk, dessen Träger ein unabhängiger Arbeit­nehmerbund, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Stadt Recklinghausen sind. Die Ruhrfestspiele sind das älteste Theaterfestival Deutschlands und zugleich eines der größten und renommiertesten Europas geworden.

Share on FacebookTweet about this on TwitterShare on Google+Email this to someone