Abiturient aus reichem Hause wanderte 1926 nach Chicago aus
Geboren 1904 in Dorsten bis 1991 in St. Louis Afton/Montana (USA); Auswanderer. – Julius Müller jun. schickte Jahre nach seiner Auswanderung in die USA seinen Eltern in Dorsten ein Fotoalbum. Es enthält Bilder, die die gelungene private, soziale und berufliche Integration des Dorsteners in Chicago überzeugend darstellen. Seinen Eltern gehörte die Ölmühle an der Hafenstraße, wo der junge Julius auch aufwuchs.
Der spätere Eismaschinen- und Bierbrauingenieur Julius Müller jun. machte 1925 Abitur am Gymnasium Petrinum und fuhr ein Jahr später von Bremen aus mit der „Berlin“ nach New York, um an der Universität von Chicago zu studieren. Das Album ist betitelt mit den schön geschriebenen Worten „Hinaus in die Ferne – Amerika-Reise – Julius Müller jun. – 1926 bis …“. Einen zeitlichen Rahmen für seinen USA-Aufenthalt setzte er sich nicht. Schließlich blieb er dort, gründete eine Familie und wurde Amerikaner. Die Eltern mochten mit Stolz herumgezeigt haben, was ihr Sohn in dem großen und reichen Amerika alles sah und auf den Bildern festhielt: Die Überfahrt nach Amerika, das lustige Bordleben, Reisebekanntschaften und so manches hübsche Mädel: „On the Boat with the most beautiful girl“ und ein Mädchen, das später seine Frau wurde, blickt durch den Rettungsring mit der Aufschrift „Berlin – Bremen“, darunter steht handschriftlich „too sweet“.
Weihnachten deutsch gefeiert und sein „too-sweet“-Girl geheiratet
Fortan ist auf den Bildern immer häufiger jenes „too sweet“-Girl zu sehen, ob im New Yorker Hafen, als die Quarantäne-Ärzte an Bord kamen, vor der Universität in Chicago, in der Michigan Avenue, oder am Atlantik, wo Julius Müller jun. über das Meer deutet und durch die Bildzeile sagen lässt: „Dort liegt unsere geliebte Heimat!“ – Sein erstes Weihnachten erlebte der Bierbrauer, den man stets mit weißem Hemd, Krawatte, Anzug und Schlapphut sieht, neben einem deutsch geschmückten Weihnachtsbaum („Christmas 1926“). Salopper geht es am Strand zu. Da liegt er mit seinem Girl im warmen Sand, vollständig angezogen, versteht sich. Nur sein Jackett hat er abgelegt. Dann sieht man ihn auf dem Rasen im Lincoln Park liegen, auf Statuen sitzen oder vor Kanonen und Wolkenkratzern posieren – stets freundlich in die Kamera lachend. Etliche Seiten weiter wird’s familiär. War sein „too-sweet“-Girl auf den vorangegangenen Seiten schon oft eingeklebt, so tritt es nun massig auf, dazu ältere Leute und auch offensichtlich gewonnene Freunde. Man sieht ein schmuckes Häuschen mit Garten und bald gehört auch ein „Lassy“-Hund zum familiären Erscheinungsbild. Die Krawatte sitzt stets perfekt und die Bügelfalten seiner Hose sind rasierklingenscharf. Dazu passt natürlich nur ein Sportwagen, in dem er sitzt. Ob er ihm gehört, geht aus den Bildunterschriften nicht hervor. Dann sieht man ihn vor einem großen Kino stehen, den Hut in der einen Hand, sein „too sweet“-Girl im andern Arm. Dahinter ist ein überdimensionales Marlene-Dietrich-Filmplakat zu sehen mit der Aufschrift „Song of Songs“.
Mit Tropenhelm und Bügelfalten
Dass es in Amerika auch Schwarze gibt, lässt er seine Eltern durch ein possierliches Foto wissen: Er lässt zwei herausgeputzte schwarze Mädchen mit weißen Kleidchen, Schleifen und Strohhüten auf der Stoßstange seines Autos sitzen – links und rechts neben den Scheinwerfern. In einem Park verkleidet sich der eingewanderte Dorstener in einen Indianerhäuptling mit Federkranz auf dem Kopf und mit bestickter Weste. Karl May lässt grüßen. Seine Hose hat auch in dieser Verkleidung scharfe Bügelfalten. Völlig aus dem Rahmen fällt der ansonsten stets so adrett gekleidete US-Dorstener, als er mit bloßem Oberkörper und Tropenhelm auf dem Kopf, ein Gewehr in der Hand hält, und mitten in Chicago einen Großwildjäger mimt.
Anfang der 1950er-Jahre Dorsten wieder besucht
Julius Müllers Integration in das Land der Tellerwäscher und Millionäre scheint erfolgreich verlaufen zu sein. Nach elf Jahren heiratete er 1937 und dokumentierte diesen glücklichen Tag auf mehreren Seiten. Die Fotos geben Aufschluss über seine Flitterwochen irgendwo im felsigen Colorado, in Hotelzimmern und in verliebten Posen an irgendeinem Strand beim Picknick. Schon sieben Monate nach der Hochzeit wurde 1937 sein Sohn Jean geboren. Kaum ist er auf der Welt, wird auch er fotografiert. Allerdings ist von dem Kleinen nichts zu sehen, so haben sie ihn eingepackt. Mit diesem Bild endet die Foto-Dokumentation eines elf Jahre langen Lebens-Ausschnitts des Dorstener Auswanderers Julius Müller jun., das mit der Überfahrt ins Unbekannte beginnt und mit dem Nachwuchs in dem nun nicht mehr fremden Land endet. Die Fotos wurden mit viel Liebe und Sorgfalt in das Album geklebt, das den Eltern und Freunden in Holsterhausen sicherlich viel Freude machte, und das heute herrenlos geworden ist und auf einem Trödelmarkt verramscht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte Julius Müller jun. Anfang der 1950er-Jahre die Familie Krüsmann im Pfarrhaus der Holsterhausener Martin-Luther-Kirche. Pastorensohn Dr. Klaus Krüsmann kann sich nur noch dunkel daran erinnern. Wenn die Familie Krüsmann die Müllers in der Villa an der Ölmühle besuchten, war es für die Pastorenkinder immer sehr anstrengend. „Wir mussten uns in dem vornehmen und reichen Haus immer gut benehmen. Der Kunsthonig aus den großen Eisenbahntanks“, erinnert sich Klaus Krüsmann, „schmeckte immer scheußlich“.