Inklusion II

Dorstener Stadtrat, Verwaltung und Parteien ziehen an einem Strang

In Sachen „Inklusion“ wollen in Dorsten die Grünen, die SPD und die CDU an einem Strang ziehen, obgleich das Thema von Politikern, Wissenschaftlern, Lehrern und Eltern bundesweit kontrovers behandelt wird. Über Inklusion (inklusive Pädagogik) wird derzeit viel geredet und nach Wegen gesucht, sie im Schulbetrieb zu realisieren. Unter Inklusion versteht man

„im Bildungsbereich den uneingeschränkten Zugang und die unbedingte Zugehörigkeit zu allgemeinen Kindergärten und Schulen des sozialen Umfeldes, die vor der Aufgabe stehen, den individuellen Bedürfnissen aller zu entsprechen – und damit wird dem Verständnis der Inklusion entsprechend jeder Mensch als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft anerkannt“ („Handlexikon der Behindertenpädagogik“).

i-inklusion

Diskussion wird kontrovers geführt

In dem 2006 beschlossenen und 2009 in Kraft getretenen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-Behindertenrechtskonvention) verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten ein „Inclusive Education System“ zu errichten, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung der Regelfall ist. In der offiziellen deutschen Fassung der Konvention wurde dies als „Integratives Bildungssystem“ übersetzt. Die Frage, ob dies eine grobe Fehlübersetzung ist (die Position etwa des Vereins Netzwerk Artikel 3 für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter) oder nicht, hat eine Kontroverse ausgelöst. Daher sind auch Diskussionen von Lehrern, Eltern und Politikern vielfach auch vor Ort kontrovers. In Dorsten soll das Menschenrecht, das Behinderten uneingeschränkten Zugang zu Kindergärten und Schulen garantiert, zum Anliegen der Stadt gemacht werden. Auf Initiative der Grünen konnte zusammen mit Sozial- und Christdemokraten eine Resolution erarbeitet werden, die im Rat zur Diskussion vorgelegt wurde. In einer „Art Plenum“, an dem die Fraktionen des Rates, die Verwaltung, Schulen, Kitas, Religionsgemeinschaften, betroffene Vereine und Bürger-Initiativen als Akteure mitwirken können, soll der Prozess der schulischen und außerschulischen Inklusion begleitet, vernetzt und vorangetrieben werden. Ziel des Landes NRW ist es, dass bis zum Schuljahr 2019/2020 mindestens 80 Prozent der Kinder mit Behinderungen einen Platz in einer inklusiven Schule bekommen. In ihrem ersten Antrag hatten Grüne und SPD gefordert, dass bis zum Schuljahr 2014/15 mindestens 45 Prozent der behinderten Dorstener Kinder einen Platz erhalten sollen.

Ulrich Domhöver von der Haldenwangschule meint:

In einem Interview mit der WAZ meinte der Leiter der Haldenwangschule, Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, Ulrich Domhöver:

„Jedes einzelne Individuum ist für uns wichtig und gleichwertig. Wir haben das ganze Spektrum von Schülern, vom Rande der Lernbehinderung bis hin zum Schwerbehinderten. Wir lehnen Inklusion nicht ab, wir stehen hinter dem Gedanken und begrüßen die Idee einer ganzheitlichen Schule. Aber wir fragen uns natürlich auch, wie es weiter geht. Wir haben unser Fach studiert, es stehen viele Forschungsansätze dahinter und viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir arbeiten heute mit ganz anderen Materialien als früher und differenzieren viel stärker. Wenn es zur Inklusion kommt, müssen die Rahmenbedingungen und die Qualität gleich bleiben. Wir sind bereit zur Kooperation. […] Manche Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder in die Regelschule kommen. Es gibt aber auch Eltern, die Angst haben, dass ihr Kind dabei überfordert wird und dann vielleicht sogar daran zerbricht. Sie wollen bewusst lieber einen beschützteren Rahmen.

Ich habe das Gefühl, dass Eltern manchmal nicht richtig beraten werden. Wir sehen den Begriff der Bildung zum Teil etwas anders; zum Beispiel essen können, in Situationen angemessen reagieren zu können, sich in der Alltagswelt richtig verhalten zu können, ist für viele Schüler ganz wichtig. Ich glaube, dass das auch in einer Regelschule funktionieren kann. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Es braucht eine permanente sonderpädagogische Begleitung, und es müssen technische Voraussetzungen geschaffen werden, zum Beispiel für die Pflege. Wir brauchen vor allem etwas Entschleunigung in dem Prozess der Inklusion, um sie für die Schüler sicher angehen zu können.“

Regierungspräsident auf Inklusionsreise in Dorsten

Der Regierungspräsident von Münster, Prof. Dr. Reinhard Klenke, besucht Schulen in seinem Regierungsbezirk, um sich ein aktuellen Bild über die Inklusionsdiskussionen zu verschaffen. Bei seinem Besuch in Dorsten im März 2012, sagte er: „Meiner Meinung nach sollte soviel Inklusion wie möglich umgesetzt werden. Aber ohne Förderschulen zusätzlich geht es nicht.“ Er hatte den Eindruck gewonnen,  dass „man die größten Skeptiker von Inklusion unter den Eltern der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf findet“.

Bekenntnis und Bereitschaft klaffen auseinander

Das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten hatte der Elterninitiative „Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen“ im Juli 2010 ein Forum geboten, vor dem ein Erziehungswissenschaftler für die Inklusion (Lernbehinderten- und Integrationspädagogik) warb. Es sprach der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Hans Wocken. „Wir möchten mit dieser Veranstaltung zeigen, dass eine inklusive Pädagogik der Vielfalt allen Kindern zugute kommt und nicht nur Kindern mit Behinderung dient“, sagte Michael Baumeister von der Dorstener Elterninitiative in einer Presseinformation. Hans Wocken stellte in seinem Vortrag fest, dass Untersuchungen gezeigt hätten, dass die Förderung von Sonderschulen „wenig effektiv“ sei. Seine Forschungsergebnisse hätten belegt, dass, je länger ein Kind an der Förderschule zubringe, es umso schlechter in seinen Leistungen werde. Zudem, so Wocken: „Wenn es konkret um den Aufbau inklusiver Bildungsangebote geht, klaffen das bekundete Bekenntnis zur Inklusion und die Bereitschaft zu realen schulpraktischen Konsequenzen immer wieder erheblich auseinander.“ Da mag der Wissenschaftler Recht haben, denn in der Praxis, so sagen andere Wissenschaftler, gebe es Schwierigkeiten mit der gesetzlich vorgeschriebenen Umsetzung der schulischen Integrationspädagogik und mit den Vorgaben in Deutschland.

Erbitterter Streit über Abschaffung oder Beibehaltung von Sonderschulen

In einem Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 8. Dezember 2011 sprach sich der Erziehungswissenschaftler der Berliner Universität der Künste, Prof. Rainer Winkel, unter dem Titel „Das neue Wunschbild: alles inklusiv – Rettet die Sonderschulen“ gegen die Inklusion aus. Das besagt, dass „hinter dem verschleiernden Vorhang einer Inklusionspädagogik ein erbitterter Streit um die Beibehaltung oder Abschaffung der Sonderschulen“ stattfindet. Winkel schildert eine Beobachtung bei der Hospitation in einer 6. Klasse einer Inklusionsschule. Englisch: Die Schüler sollen 30 verschiedene Wörter in eine Liste eintragen, über der geschrieben steht: „adjektives, adverbs, nouns and verbs“. Im angrenzenden Gruppenraum sitzen ein an Muskeldystrophie erkranktes Mädchen im Rollstuhl und zwei Jungen, die von ihren Mitschülern liebevoll „Mongis“ genannt werden. Sie malen Mandalas aus. Am Ende der Hospitation sagte die Lehrerin: „Wir sind eine Inklusionsschule, in der alle Schüler optimal gefördert werden.“ – „Na, dann fördert mal schön“, meinte der hospitierende Schulrat. Der Mitarbeiter einer Behindertenwerksatt sagt dem Autor zum Thema Integrationspädagogik: „Seit die totale Integration praktiziert wird, haben wir jetzt die ersten Opfer dieser fanatischen Pädagogik, Opfer, die noch nicht einmal in einer entsprechenden Sonderschule lernen können, wie man sich die Schuhe zubindet oder seine Jacke aufknöpft!“.

Das deutsche „Entweder-Oder-Prinzip“

Schon 1973 hatte der „Ausschuss Sonderpädagogik“ des Deutschen Bildungsrates gefordert, die Integration von behinderten Kindern in das „allgemeine Schulwesen so weit und so oft wie möglich zu verwirklichen, ihnen aber auch so viel separate Hilfen wie notwendig zu geben.“ Das Grundgesetz wurde 1994 mit der Passus „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden …“ erweitert. 2006 forderte die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, die Bezeichnung „integration“ zu vermeiden und stattdessen den Begriff „inclusion“ zu benutzen. Rainer Winkel stellt fest, dass in vielen Staaten der Paradigmenwechsel bereits stattgefunden hätte, ohne dass „die Ausbalancierung“ zwischen so viel Integration wie möglich und so viel Separation wie notwendig aufgegeben wurde.“ Dies sei aber nicht in Deutschland der Fall. Hier bevorzuge man die Totalität, die reine Lehre, das Entweder-Oder und nicht die „Antinomien und deren mühsame Bewältigung“. Und weil man in Deutschland dem „Entweder-Oder“ den Vorrang gebe, würden in Deutschland die sieben Behinderungsarten (Lernschwierigkeiten, geistige Beeinträchtigungen, sozial-emotionale Entwicklungsstörungen, Sprachschwächen, körperliche Erkrankungen und Sinnesbeeinträchtigungen des Hörens und Sehens) keine Behinderungen sein, sondern „Besonderheiten, Merkmale von Heterogenität“. Winkel vergleicht dies mit den „Unterschieden in den Sprachen, Kulturen, Religionen, Familien und sexuellen Präferenzen“. Sonderschulen würden in Deutschland mittlerweile diskriminiert werden, wozu auch die Wissenschaft beitrage. Winkel argumentiert mit dem Zitat des in Halle lehrenden Prof. Andreas Hinz, der der traditionellen pädagogischen Fachterminologie rigoros eine „diskriminierende, sexistische und rassistische Sprache“ attestiert. Prof. Rainer Winkel: „Solche Totschlagargumente ermunterten natürlich viele Eltern, ihre Kinder von den schlimmen Sonderschulen fernzuhalten.“

Politiker: Inklusion bringt enorme Einspareffekte

Winkel befasst sich auch mit der bildungspolitischen Seite der „Inklusion“. Politiker witterten in der Abschaffung von mehr als 2.000 Sonder- und Förderschulen sowie in der Inkludierung aller von Behinderungen betroffenen Schüler und Schülerinnen in die 30.000 Regelschulen enorme Einspareffekte. Die nicht mehr benötigten Sonderschullehrer werden dann als „Autofahrer exzellente Parkplatzsucher“, denn sie sollen in jeweils zwei bis vier Wochenstunden die Regelschullehrer beraten, damit sie die behinderten Schüler nachhaltig inkludieren können.

„All included“ bedeutet keine Traumschule

„All included“ trat als Schlagwort seinen Siegeszug im Touristikgewerbe für einen „Traumurlaub“ an, jetzt gilt es als Etikett für die „Traumschule“, sagt Rainer Winkel. „Da die Einheitsschule genauso wenig mehrheitsfähig war wie die Gesamtschule, versucht man es jetzt mit dem Logo „Inklusionsschule“. Rainer Winkel: „Weil aus der einstigen Hilfsschule die Sonderschule wurde und aus diese eine Förderschule werden sollte, werden jetzt Schilder für Inklusionsschulen angebracht. Eine Gruppe von sonderpädagogischen Wissenschaftlern liefert die neuen Begrifflichkeiten, die Eltern bekommen ihre Wunschbilder ausgehändigt und die Politiker können umschichten. Der Autor schließt seinen Aufsatz mit den Worten, mit denen er Erich Fromm zitiert: „Jeder Fanatismus legt den Verdacht nahe, dass er dazu dient, andere, gewöhnlich die entgegengesetzten, Impulse zu verdecken.“ Ob darüber nachzudenken wäre? fragte der Autor.

In Dorsten erst einmal drei Schulen für den gemeinsamen Unterricht

Die Schulaufsicht der Berzirksregierung in Münster gab im Janaur 2015 bekannt, dass drei Schulen in Dorsen künftig so genannte „Dauerhafte Orte des Gemeinsamen Lernens“ mit Inklusionsangeboten werden: Gesamtschule Wulfen, die Geschwister-Scholl-Hauptschule und die Dietrich-Bonhoeffer-Schule. Der Dorstener Schulausschuss stimmte dem zu. Das Angebot gilt nuir für Schüler mit Lern- udn Entwicklungsstörungen. Jetzt müssen uzmfangreiche Umbaumaßnahmen an den drei Schulen unternommen werden. Eine Realschule ist nicht dabei. Eigentlich hatte die Erich-Klausener-Realschuler damit gerechnet, in das gemeinsame Lernprogromm mit aufgenommen zu werden.

Anfang 2015 erhielt die Stadt Dorsten vom Land 112.000 Euro zur Förderung der Inklusion in den Schulen. Davon sind 90.000 Euro für bauliche Zwecke und 22.000 Euro für Personalausgaben bestimmt.


Quellen:
Wikipedia, Online-Enzyklopädie (2011). – Michael Klein „.Resolution zum Thema Inklusion: Schwarz, Rot und Grün agieren gemeinsam“ in DZ vom 25. April 2011. – Ute Hildebrand-Schute „Gespräch mit dem Leiter der Haldenwangschule. Inklusion ist nichts zum Sparen“ in WAZ vom 2. August 2010. – Auch veröffentlicht im Online-Magazin Dorsten-transparent „Inklusion IV“, Februar 2012. – Michael Klein „Zunächst drei Schulen als Orte der Inklusion“ in der DZ vom 3. Januar 2015.

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