Tausende von westfälischen „spekfrettern“ arbeiteten jenseits der Grenze
Wie sich doch so manches gleicht! Wir erinnern uns an die Gastarbeiter aus Italien, Jugoslawien, Griechenland, Spanien und der Türkei, die in den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, weil sie hier gebraucht wurden. Heute sind es u. a. Polen, die als Saisonarbeiter nach Deutschland kommen, beispielsweise während der Spargelzeit. Meist ist beiden geholfen, den Spargelbauern, denen Arbeitskräfte fehlen, und den Arbeitskräften, die Geld verdienen. So war es auch im 17. bis 20. Jahrhundert, als deutsche Saisonarbeiter im Ausland Geld verdienten, um ihre Familien in der Heimat zu versorgen. Denn bereits seit dem 17. Jahrhundert bestand ein Wohlstandsgefälle zwischen Holland / Westfriesland und dem armen und von Missernten und Steuerlasten bedrückten Westfalen. So waren die westfälischen und emsländischen Saisonarbeiter aus sozialer Not getrieben. Hauptmerkmal dieser Arbeit war die jahreszeitlich beschränkte Saisonarbeit. Stand in der Heimat die Erntezeit bevor, gingen sie zurück, wo sie dann von den Ersparnissen ihres Verdienstes in Holland, der gewöhnlich 50 bis 60 holländische Gulden betrug, ihre Abgaben bezahlen konnten und der Überschuss ihrer Familie zugute kam. In Westfalen und in Nordwestdeutschland nannte man diese deutschen Wanderarbeiter aus den ländlichen Gebieten „Hollandgänger“. Sie fanden Arbeit vor allem in den Provinzen Holland und Friesland. Hollandgänger waren vor allem Heuerleute (Pächter kleiner Agrar-Anwesen), Brinksitzer (Kleinstbauern). Handwerker, Knechte und Mägde. In den Niederlanden fanden sie Arbeit als Grasmäher, Gärtner und Torfstecher, aber auch als Seeleute beim Herings- und Walfang. Unter den Handwerkern waren Zimmerleute, Zuckerbäcker, Ziegler, Sensenmacher und Maurer. Frauen fanden als Dienstmädchen, Melkerinnen oder Bleicherinnen Arbeit. Unter den saisontätigen Hollandgehern waren aber auch Künstler, Pastoren, Prostituierte, Schmuggler und Vogelhändler.
Wie eine Völkerwanderung
Für den Zeitraum zwischen 1700 und der Reichsgründung 1871 schätzt man die Zahl der Hollandgänger jährlich auf 20.000 bis 40.000. Mit beginnender Industrialisierung löste das Ruhrgebiet die Sogwirkung Hollands ab und der Trend kehrte sich um: Holländer und Münsterländer zogen mit Sack und Pack in das Ruhrgebiet. Hollandgänger machten sich im Frühjahr oft in Gruppen auf den Weg und nahmen dabei feste Routen. Angehörige begleiteten sie dabei oft ein stückweit. Die Hauptwanderrouten waren den Hollandgängern gut bekannt, denn sie führten entlang oder in Korridoren durch Moorgebiete entlang der deutsch-holländischen Grenze. Aus dem Münsterland führte die Route entlang der Lippe, dann ein kurzes Stück nordwärts entlang am Rhein bis zur Einmündung der Ijssel, dieser entlang bis Hasselt und von dort westlich nach Amsterdam. Hollandgänger aus dem Oldenburger Münsterland durchquerten das Bourtanger Moor bis zur Grenze und dann nach Amsterdam bzw. in die anderen Arbeitsregionen.
Gepäck wurde mit Wagen und Flussschiffern transportiert
An der Ems standen Fähren bereit, wo manchmal bis zu 900 Gepäckwagen ankamen, die das Gepäck der Hollandgeher transportierten. Mit Leibwäsche, Arbeitsanzügen, Stiefel und ähnlichen Dingen war das Gepäck bis zu 50 Pfund schwer. An der holländischen Grenze nahmen oft holländische Flussschiffer das Gepäck in Empfang und beförderten es weiter zu den Hafenstädten an der Zuidersee. Kampen, Amsterdam, Zwolle, Nordholland und Seeland waren ihre Ziele. Dort anzukommen brauchen die Hollandgänger etwa fünf bis sechs Tage. Die Grasmäher bevorzugten zunächst Nordholland, dann die fetten Weidegebiete Westfrieslands.
Hollandgänger wurden oft als „Spekfretters“ beschimpft
Ihre Arbeit war hart. Sie mussten sechs Tage in der Woche täglich bis zu 16 Stunden arbeiten. Torfstecher standen den ganzen Tag bis zu den Knien im Wasser. Sie lebten und schliefen oft in Erdhöhlen und Scheunen, auf Strohlagern, auf Heuböden. Zum Zudecken hatte sie meist nur eine Decke. Auch am Essen wurde gespart, denn sie wollten möglichst wenig für Lebensmittel ausgeben. Als Westfalen ernährten sie sich hauptsächlich von Speck. Daher wurden sie von den Holländern als „Spekfretters“ beschimpft. Die Hollandgänger wurden zwar gebraucht, waren aber nicht überall gut gelitten.
Den Kontakt mit der Heimatdörfern und Städten hielten die Hollandgänger während ihrer Abwesenheit mit eigens angestellten und bezahlten „Postboten“, die „Hollandboten“ hießen. Durch die Zigtausende von Hollandgängern war das Arbeiten im Ausland und bei einer sehr hohen Gesamtfinanzmasse, die dadurch bewegt wurde, ein staatsfiskalisches Problem. Zum Beispiel wollte Preußen, zu dem nach 1816 Westfalen gehörte, ein Gesetz gegen das Außerlandgehen von Arbeitskräften erlassen, da sie im eigenen Land fehlten. Doch die Städte protestierten dagegen. Denn sie hätten durch dieses Gesetz zahlungskräftige Kunden, nämlich die zurückgekehrten Hollandgänger, verloren.
Machten sich nach Saisonende und Lohnauszahlung die Hollandgänger mit voller Geldkatze auf den Rückweg, wurden sie von ihren Angehörigen in den Dörfern festlich empfangen. Das war ein Ereignis „ersten Ranges“. Die Zurückgekehrten mussten über ihre Erlebnisse erzählen und der Begriff „Hollandgänger-Latein“ entstand.
Aus holländischen Kirchenbüchern ist ersichtlich, dass unverheiratete Hollandgänger nicht selten in Holland festen Wohnsitz nahmen, heirateten und dort blieben. Darunter sind bekannte Namen und Familien wie Brenninkmeyer, Brinkmann, Brüggemann, Cloppenburg, Dreesmann, Goldschmeding, Hunkemöller, Lampe, Meyer und Sinkel. Noch heute sind etliche davon als große Textilunternehmen bekannt. Es gibt auch mundartlich angepasste Familiennamen der in die Niederlande Eingewanderten, wie Beentjes, Breen, Dresselhuis, Kramer, Mijer, Mulder, Muller, Lievegoed, Snijder, Visser, Voortman und Waterhout. Diese Namen sind heute in den Niederlanden als „urholländische“ Familien mit deutscher Abstammung ein Begriff.
Heute pendeln aus NRW 27.000 zur Arbeit in die Niederlande
Auch heute gibt es Hollandgänger, auch wenn man sie heute Pendler nennt. Es pendeln mehr Menschen aus Nordrhein-Westfalen zur Arbeit in die Niederlande als umgekehrt. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2014. Damals waren es 27.000 Menschen aus NRW, die in den Niederlanden arbeiteten (2012: 23.5000). Im Gegenzug pendelten 9400 Niederländer zur Arbeit nach Nordrhein-Westfalen.