Fehlentscheidung im Rat

Freudenberg-Abgrabung – Chronologie eines rechtswidrigen Beschlusses

Kiesgrube am Freudenberg

Sandgrube am Freudenberg

Von Wolf Stegemann – Mitte der 1980er-Jahre stritten Bürgermeister Heinz Ritter, die Fraktionen und die Verwaltung mit Stadtdirektor Dr. Zahn und dem Rechtsamtsleiter Götz-Dietrich Renelt unter Beteiligung des Regierungspräsidenten von Münster miteinander und untereinander um Schuldzuweisungen. Denn es ging um eine Fehlentscheidung des Rates, dem ein Verwaltungsgerichtsurteil und danach Regressforderungen eines Abgrabungsunternehmens der Sandgruben am Freudenberg in Millionenhöhe folgten.

Regierungspräsident mahnt – Stadt ignorierte

Im Oktober 1983 bat der Regierungspräsident die Stadt um eine Stellungnahme zu dem Antrag der Firma Emil Bölling aus Castrop-Rauxel auf eigenständige Abgrabungen am Freudenberg. Am 5. Dezember mahnte der Regierungspräsident die Stellungnahme an. Die Stadtverwaltung versagte die Genehmigung auf selbstständige Abgrabung am Freudenberg, verweigerte eine neue Zufahrt von der B 58 und teilte dies dem RP am 30. Dezember 1983 mit. Die Verwaltung fertigte am 18. Dezember 1984 eine Beschlussvorlage für den Umweltausschuss und den Bauausschuss an, in der sie ein Nein zur selbstständigen Abgrabung, aber ein Ja zur Abgrabung über die vorhandene Grube Hennewig vorschlug. Da der Umweltausschuss diesen Punkt am 22. Januar 1985 von der Tagesordnung strich, musste auch der Bauausschuss wegen fehlender Vorberatung im Umweltausschuss diesen Punkt am 28. Januar ebenfalls von der Tagesordnung nehmen. Am 7. Februar setzte ihn der Umweltausschuss erneut ab. Der Umweltausschuss empfahl schließlich am 20. Februar einstimmig, die eigenständige Abgrabung sowie – entgegen dem Verwaltungsvorschlag – auch die Abgrabung über die vorhandene Grube Hennewig zu versagen. Am 28. Februar schloss sich der Bauausschuss diesem Votum einstimmig an. Als Gründe wurden der Schutz des Naherholungsgebiets und der Landschaftsschutz angeführt. Nach dem Gesetz musste somit der Regierungspräsident den Antrag der Firma Bölling ablehnen und begründete dies mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Einvernehmen mit der Stadt Dorsten, das in diesem Fall nicht gegeben war. Daraufhin wiesen die Rechtsanwälte der Firma Bölling am 8. November 1985 den Stadtdirektor auf das Widerspruchsverfahren hin, mahnten die Stadt an, eine Stellungnahme abzugeben und meldeten vorsorglich Ersatzansprüche an.

Regierungspräsident kritisierte, Stadt ignorierte

Am 19. März 1986 ging ein Schreiben des Regierungspräsidenten bei der Stadt ein, in dem u. a. die Ablehnungsgründe der Stadt für nicht sachgerecht gehalten wurden und auf höchstrichterliche Rechtsprechung verwiesen wurde. Denn die Stadt dürfe nur aus städtebaulichen, planungs- und erschließungsrechtlichen Gründen ihr Einvernehmen versagen. Der RP bat die Stadt, ihren Standpunkt zu überdenken und zu revidieren. Doch die Stadt Dorsten beharrte auf der Richtigkeit ihres Standpunktes. Im Mai 1886 erhielt Stadtdirektor Dr. Zahn die Durchschrift des Widerspruchbescheids zum Antrag der Firma Bölling auf Genehmigung einer Abgrabung. Am 28. Mai warnte Rechtsamtsleiter Renelt anlässlich der zu erstellenden Vorlage für den Bauausschuss schriftlich, „dass bei der Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens dieses mit einem erheblichen Prozessrisiko für uns verbunden ist“.

Unternehmen Bölling erhob Klage vor dem Verwaltungsgericht

Der Regierungspräsident Münster, Abteilung 5, teilte am 5. Juni 1986 telefonisch der Stadtverwaltung Dorsten mit, dass Bölling Klage erhoben habe. Der Regierungspräsident erhob gegen die ablehnende Haltung der Stadt Dorsten rechtliche Bedenken und fragte an, ob im Widerspruchverfahren bei der Stadt Dorsten nicht eine „Trendwende“ bezüglich der Erteilung des Einvernehmens möglich wäre.
Mit acht Ja- und acht Nein-Stimmen lehnten die Kommunalpolitiker im Umweltausschuss am 1. Juli 1986 den Verwaltungsvorschlag ab, der vorsah, dass die Verwaltung ermächtigt werde, bei einer sich negativ abzeichnenden Entwicklung im Prozess Vergleichsverhandlungen führen ggfls. dem Abgrabungsgesuch zustimmen zu dürfen. In der Verwaltungsbegründung wurde den Kommunalpolitikern die Bedenken des RP mitgeteilt. Allerdings hielt die Verwaltung das bisherige Nein zur Abgrabung für vertretbar. Auch der Bauausschuss blieb bei seiner ablehnenden Haltung. Einstimmig lehnte er weitere Grabungen ab und verbot der Verwaltung, Vergleichsverhandlungen zu führen, auch ausdrücklich auf die Gefahr hin, dass die Stadt das Gerichtsverfahren verlieren könnte.
Am 16. Juli 1986 bezweifelte der Regierungspräsident erneut die rechtliche Zulässigkeit des Dorstener Beschlusses. Am 21. August 1986 erhielt die Stadt die Klageschrift im Verwaltungsstreitverfahren Bölling gegen RP Münster bzw. Stadt Dorsten als Beigeladene, zudem die Klageerwiderung des Regierungspräsidenten. Der RP war lediglich Genehmigungsbehörde, er musste also so genehmigen oder ablehnen, wie die Stadt Dorsten sich entschieden hatte. Das Bauordnungsamt Dorsten nahm wie folgt Stellung: „Zu den beiden Klageschriften ist eine eingehende Stellungnahme nicht erforderlich!“

Stadt verlor wie erwartet den Prozess in „Bausch und Bogen“

Die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (Az.: 10 K 1655/86) fand am 1. Juni 1987 statt. Baudirektor Wolthaus und Rechtsamtsleiter Renelt vertraten die Stadt. Die mündliche Verhandlung dauerte lange. Die Stadt verlor den Prozess in Bausch und Bogen. Der Streitwert war mit 300.000 DM angegeben. Am 13. August 1987 ging das schriftliche Urteil des Verwaltungsgerichts bei der Stadt Dorsten ein. Im Urteil stand, dass der Regierungspräsident die beantragte Genehmigung zur Abgrabung unter Auflagen zu erteilten habe. Zwar wurde der Regierungspräsident als gesetzlich Beklagter nominell verurteilt, der Stadt Dorsten aber als Beigeladene und Verursacherin die Schuld für „grob fahrlässiges und unsachgemäßes Handeln“ zugewiesen. Deshalb wurde Dorsten zur Kasse gebeten. Das Gericht würdigte bei der Urteilsfindung, dass der Regierungspräsident mehrmals die Stadt ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass er, der RP, die Ausführungen der Stadt für nicht rechtens halte. Die Argumentation der Stadt, die Abgrabung mit Gesichtspunkten des Umweltschutzes zu versagen, widerlegte das Gericht mit dem Hinweis auf bekannt gewesene Rekultivierungsmaßnahmen. Das Gericht erkannte in Würdigung aller Umstände, dass eine Verweigerung der Abgrabung aus formellen wie aus materiellen Gründen rechtswidrig war. Die Schuldzuweisung formulierte das Gericht u. a. so: „Die Kosten waren der Beigeladenen (Stadt) aufzuerlegen, weil diese durch ihr Verschulden verursacht worden sind.“ Die Stadt habe die Sorgfalt außer Acht gelassen, nicht gewissenhaft und sachgemäß gearbeitet sowie rechtswidrig gehandelt. „Die zutreffende Auswertung (höchstrichterlicher) Rechtsprechung ist einer Gemeinde zumutbar, zumal dann, wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wird und ihre Verwaltung über die Fachkenntnisse von Volljuristen verfügt.“

Schadensersatzforderung in Höhe von 1 Million Mark

Die Anwälte des Unternehmens Bölling teilten am 6. Februar 1988 der Stadt Dorsten mit, dass die Schadensermittlung in Höhe von einer Million DM abgeschlossen sei. Die Anwälte forderten umgehende Begleichung, ansonsten sie nach dem 20. Februar 1988 Klage beim Landgericht Essen gegen die Stadt erheben werde, sollte die Stadt nicht vorher das „mehrfach geforderte Anerkenntnis der Schadensersatzpflicht“ unterzeichnet an die Anwälte zurückgeschickt haben.
Jetzt begann der Streit im Rathaus zwischen Bürgermeister Heinz Ritter und dem Verwaltungschef  Dr. Karl-Christian Zahn erst richtig. Während die Verwaltung den Standpunkt vertrat, im Laufe des Verwaltungsverfahrens in den politischen Gremien auf rechtlichte Bedenken „hingewiesen“ zu haben, meinte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzender Dr. Dieter Nellen (wie auch der Bürgermeister), dass keine Bedenken geäußert wurden. Deshalb könnten Ratsmitglieder auch nicht haftbar gemacht werden. Nach Prüfung aller Akten durch die SPD-Fraktion forderte Nellen eine Untersuchungskommission, der Mitglieder aller Fraktionen angehören sollten. Aus dem wurde nichts.

Gemeindeversicherungsverband verweigerte die Schadenszahlung

Die Versicherung der Stadt (Gemeindeversicherungsverband) weigerte sich, den Millionenschaden zu bezahlen mit dem Hinweis aus dem Urteil, die Stadt habe den Schaden „vorsätzlich“ verursacht. Die Kommunalpolitiker, die bei diesem Fall die politische Verantwortung hatten, denn sie fassten einstimmige Nein-Beschlüsse, schoben den „Schwarzen Peter“ dem Stadtdirektor mit der Beschuldigung zu, er hätte nicht ausdrücklich auf die Rechtslage aufmerksam gemacht. So richtig im störrischen Prozessfieber angekommen, meinten die Politiker im Haupt- und Finanzausschuss, dass man einen Prozess gegen den Gemeindeversicherungsverband anstrengen werde, sollte dieser die Regressforderung weiterhin ablehnen. Der lehnte weiterhin ab und die Stadt Dorsten bzw. deren Bürger bezahlten letztendlich den angerichteten Schaden.

2012 ging es auch anders

Dem Antrag der Firma Wilhelm Hennewig, ihre Abbaufläche am Freudenberg zur Gewinnung von Quarzsand ab 2014 um 21 Hektar zu vergrößern, stimmte der Dorstener Stadtrat im Dezember 2012 zu. Die Erweiterungsfläche, auf der bis zur Abholzung Nadel- und Laubbäume wuchsen, enthielt ein Volumen von 1,25 Millionen Kubikmetern Quarzsand, was für weitere acht Jahre ausreichen dürfte. Dem stimmte in der Folge auch die Bezirksregierung Arnsberg zu, da die Belange des Trinkwasser- und Grundwasserschutzes gewahrt sind. Die Stadt Dorsten profitierte von diesem Planungsvorhaben der Firma Hennewig. Sie konnte den Ertrag des Holzverkaufs aus den abgeholzten Flächen vereinnahmen und erzielte Pachterlöse aus den Teilflächen, die im städtischen Besitz sind.


Quellen:
Wolf Stegemann „Der Umweltschutz findet seine Grenzen am geltenden Gesetz“ in RN vom 13. Februar 1988. – Derselbe „Fehlentscheidungen reißen Millionenloch“ in RN vom 13. Februar 1988. – Ders. „SPD beantragt Untersuchungskommission. Im Millionen-Fall: Stadt Dorsten in arger Zeitnot“ in RN vom 17. Februar 1988. – Ders. „Städtisches Rechtsamt warnte 1986 vor dem Prozessrisiko“ in RN vom 17. Februar 1988. – Ders. „Schadensfälle: Ernste Stimmung im Haupt- und Finanzausschuss. Viele offene Fragen zu klären: Ratsmitglieder prüfen Akten“ in RN vom 18. Februar 1988. – Hinweis: Veröffentlicht auch in DORSTEN-transparent (2012).

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