Sicheln wetzen, damit Hexen darauf nicht reiten konnten
Heute hat sich durch moderne und computergesteuerte Maschinen sowie ein durch Rationalisierung bestimmtes Hof-Management das Erntebild verändert. Der Blick auf verschwundene alte Erntebräuche, die es in Dorsten und Umgebung vielfältig gab, ist nur noch im Rückblick romantisch. Das bekannte Erntebild aus Schillers Glocke
„Schwer herein schwankt der Wagen kornbeladen,
bunt an Farben, auf den Garben liegt der Kranz,
und das junge Volk der Schnitter fliegt zum Tanz“
ist längst verblasst. Die Schnitter, mit denen der Bauer früher zum Abschluss der Getreideernte ein Hoffest mit Gesang und Tanz gefeiert hatte, gibt es nicht mehr, die schwer beladenen Garbewagen sind verschwunden, und die Sicheln und Sensen werden nicht mehr gebraucht – nur noch von Heimatvereinen für Demonstrationszwecke. Selbst die alten Dreschmaschinen haben ausgedient. Heute bestimmen die Mähdrescher und andere moderne Erntemaschinen das Erntebild.
Ein Vaterunser vor Beginn der Erntearbeit – Gottesdienst am Ende
Der Beginn der Ernte glich einst einer kultischen Handlung. In Festtagskleidern und mit Blumen geschmückten Sensen zogen die Bauern zum Erntebeginn hinaus auf die Felder. Der Zeitpunkt der Ernte wurde früher vom Gemeinderat des Dorfes offiziell festgelegt, nachdem er sich zuvor auf einem Gang durch die Felder von der Reife des Getreides überzeugt hatte. Nach Möglichkeit wurde der Erntebeginn auf einen Donnerstag gelegt. Dem ersten Erntetag ging eine Erntebetstunde voraus, bei der der Pfarrer den Gottessegen für die bevorstehende Ernte erflehte. Dann zog der Bauer mit seinem Gesinde, den Knechten und Mägden, zur Ernte hinaus. Er führte den ersten Sensenschlag, um damit den Beginn der Ernte einzuleiten. Bevor er den ersten Schnitt tat, nahm er seine Kappe ab und sprach das Vaterunser oder ein „Walt’s Gott!“. Auch die Knechte und Mägde beteten ein Vaterunser, ehe sie mit der Erntearbeit begannen.
Mit geschmückten Pferden der erste Garbenwagen eingefahren
Das Einfahren des ersten Garbenwagens war ein besonders festliches Ereignis. Zu seinem Empfang wurde ein Seil über die Straße gespannt, an dem Blumen, Ähren, Sicheln und ein Segensspruch aufgehängt waren. Die Schulkinder geleiteten den Wagen unter Anführung des Lehrers mit Gesang in das Dorf. Der Wagen selbst wurde meist von vier geschmückten Pferden gezogen. Durch die Straßen des Dorfes nahm der Zug zuerst den Weg zur Kirche, wo die Schulkinder ein Danklied sangen und der Ortsgeistliche ein Gebet sprach. Danach wurde der Wagen von den Dorfbewohnern in feierlichem Zug durch das ganze Dorf geleitet.
Aber auch so mancher Aberglaube hatte sich in früherer Zeit um die Ernte gebildet, der später im bäuerlichen Brauchtum weiterlebte, ohne dass man den Ursprung dieser Sitten noch ergründen konnte. Dazu gehörte auch der Brauch, die Ernte zu „entzaubern“, um sie vor bösen Geistern zu schützen. Die Schnitter durften die geschärfte Sichel oder die Sense nicht unmittelbar zum Schneiden des Getreides verwenden, sondern mussten sie zuerst auf den Boden werfen, darüber hinweg schreiten und sie dann wieder aufheben, um mit der Arbeit zu beginnen. Nach der Mahd mussten die Sensen sofort wieder gewetzt werden, „damit die Hexen nicht darauf reiten konnten“.
Erntefeste und -bräuche haben eine jahrhunderte lange Tradition
Ebenso festlich wie der Erntebeginn wurde früher auch der Ausklang der Ernte begangen. Wenn der letzte Garbenwagen eingefahren und Sicheln und Sensen in der Scheune aufgehängt waren, feierten der Bauer und sein Gesinde die „Sichelhenke“, zu der oft auch Freunde und Verwandte eingeladen waren. Mit fröhlichen Liedern begleiteten die Kinder und die Erntearbeiter den letzten Erntewagen ins Dorf, die Pferde wurden mit Blumen geschmückt, und der Bauer oder sein Knecht saßen in der Sonntagstracht auf dem Bock. Der Bauer musste die letzte Fuhre „auslösen“, indem er die Erntehelfer bewirtete oder sie mit Geldstücken belohnte. Nachdem der letzte Garbenwagen auf dem Hof eingefahren war, wurde die Tenne mit den letzten Garbebündeln verziert. Dann begann ein lustiges Schmausen und Zechen, die Musik spielte zum Tanz auf, und mancher alte Brauch, aber auch mancher Schabernack hielt die Gesellschaft bis in die frühen Morgenstunden zusammen.
Auch die Erntedankfeste haben eine lange Tradition. Wenn heute vor den mit Feld- und Gartenfrüchten geschmückten Altären in Predigten und Gebeten für die Ernte gedankt wird, dann erinnert man sich, dass solche Feste so alt sind wie der Ackerbau selbst. In der Bibel dankte schon Kain, der „dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes“, wie es Luther übersetzte. Aus den Opferfesten sind – vorbehaltlich anderer Deutungen der modernen Forschung – durch das Christentum Erntedankfeste mit Schmücken der Kirchen und Altäre, mit Gottesdiensten, Erntedankkränzen und Umzügen durch die Felder geworden. Die Herkunft und Bedeutung der Erntedankfeste aus dem Fortleben vorchristlicher Vorstellungen, aus Vegetationsmagie, Dämonenglaube und Opferbrauch abzuleiten, hielt einer kritischen Überprüfung seit Mitte der 1960er-Jahre nicht stand, denn mythologisch-vegetationsdämonische Bezüge seien eine Zutat spätromantischer Ausdeutung, wie Forscher herausgefunden haben.
Bauer bekam den Dreschflegel um den Hals gehängt
Bei Erntefesten in Dorsten wurde oberhalb des Scheunentors ein Kranz angebracht, wenn der „Bau geborgen“ war. Dann ließen die reichen Bauern an einem der folgenden Tage einen Gottesdienst (Hochamt) abhalten. In Hervest war es beispielsweise Sitte, dass der Bauer fortlief und von Knechten und Mägden verfolgt wurde, wenn das „letzte Buchweizenbett“ (letzte Lage Garben) gedroschen war. Eingeholt, bekam er den Dreschflegel um den Hals gelegt und musste „anloben“, d. h. einen Schmaus versprechen, der aus reich gespickten Buchweizenpfannkuchen und einem fröhlichen Umtrunk bestand. Im Jahre 1785 wurde in einer kurfürstlichen Verordnung – in Zusammenhang mit dem Erntefest – das „Flachsfest“ genannt und als „allen Grundsätzen der Landwirtschaft entgegenlaufend“ verboten. Im Museum des Heimatvereins Lembeck sind unter dem Dach des Schlosses Lembeck etliche Gerätschaften und Maschinen der damaligen Ernte und der Erntebräuche zu sehen.