AFD-Debatte im Rat

Dürfen Ratsmitglieder nur ,wertemäßig und intellektuell’ reden?

Ratssitzung vom 16. Dezember 2020 im Gemeinschaftshaus Wulfen; Foto: DZ

W. St. – In der Ratssitzung vom 16. Dezember 2020 brachten die Ratsfraktionen der CDU, SPD und Grünen einen Antrag ein, in dem der Rücktritt von zwei der erst im September 2020 gewählten AfD-Ratsmitgliedern gefordert wurde. Unter der Überschrift „Demokratiefeindliches Verhalten der AfD-Ratsmitglieder Bühne und Kirschmann“ beantragten die drei Fraktionen, der Rat solle die Äußerungen der beiden AfD-Ratsmitglieder in Bezug auf die Corona-Pandemie, die sie in der Öffentlichkeit getätigt hatten, missbilligen und die AfD-Fraktion sich davon distanzieren. Warum? Der eine hatte in der Öffentlichkeit eine Schutzmaske mit der Aufschrift „Corona-Diktatur“ getragen, der andere hatte sich auf einer Facebook-Seite Verschwörungstheorien verbreitet. Die AfD stellte gleich zu Beginn der Ratssitzung, diesen Punkt abzusetzen, was mit der Ratsmehrheit abgelehnt wurde.

Schaden private Äußerungen dem Rat als Ganzes?

Der Antrag der drei Parteien wurde erwartungsgemäß mit den Stimmen aller Ratsmitglieder angenommen mit Ausnahme der drei anwesenden AfD-Mitglieder, die dagegen stimmten. Ein zentrales Argument der Antragsteller war, dass private Äußerungen eines Ratsmitglieds regelmäßig in Verbindung gebracht würden mit seinem Status als Mitglied des Stadtrates. Es gebe keine Trennung von privaten Äußerungen und solchen, die sie explizit in ihrer Rolle als Ratsmitglied tätigen. Dies schade dem Rat als Ganzes und deswegen dürfte und müsste sich der Rat damit befassen. Die AfD hielt dagegen, die umstrittenen Äußerungen, ob man sie richtig oder falsch finde, seien von der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit gedeckt und rechtfertigten nicht eine Beschäftigung des Rates mit ihnen. Darüber und über weitere Aspekte des Antrags wurde dann heftig gestritten. Die Debatte endete schließlich mit der Zustimmung des Rates zu dem Antrag.
In der Diskussion, die hauptsächlich gegen die Corona-Äußerungen der Ratsmitglieder auf einer Demonstration bzw. im Internet gemacht wurden, wurden von den Parteirednern und auch vom Bürgermeister (CDU) Argumente emotionalgeladen eingebracht, als ob die eigentlich doch läppischen Meinungen der beiden AfD-Mitgliedern die Demokratie in Dorsten zerstören oder zumindest schaden würde und „solche Leute zurückgepfiffen“ werden müssten.

„Lieber an Corona sterben als im Faschismus leben!“

Zur Begründung, warum Ratsmitglieder andere ebenfalls gewählte Ratsmitglieder ihr Amt niederlegen sollten, wenn den anderen diese Meinungen nicht passten, waren höchst eigenartig und für manchen Zuhörer in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar Hier einige mitgeschriebene Zitate (Auszüge):
Vom CDU-Fraktionsvorsitzenden war zu hören: „Sie haben die Pflichten als Ratsmitglieder gröblichste verletzt!“ – „Sie haben das Gemeinwesen lächerlich gemacht!“ – „Der Antrag deshalb, weil Bürger und Bürgerinnen einen Anspruch haben, wie dieser Rat mit den Äußerungen umgeht. Die CDU ist nicht bereit, diese unsäglichen Äußerungen zu akzeptieren!“ – „Sie haben gegen das Konzept gegen Corona ganz schwer verstoßen. Sie haben das lächerlich gemacht!“ und „Solche Leute müssen von ihnen zurückgepfiffen werden!“
Der SPD-Ratsvorsitzende meine u. a.:  „Wir müssen die Demokratie schützen!“ – „Wir müssen aufpassen, dass uns die AfD nicht aufs Glatteis führt!“ und er zitierte: „Lieber an Corona sterben als im Faschismus leben!“
Der Grünen-Sprecher den anderen Ratsmitgliedern den Nationalsozialismus und das Ermächtigungsgesetz von 1934 und warum die Corona-Vorschriften kein Ermächtigungsgesetz im Sinne des von 1934 seien. Er meinte, dass durch die Berichterstattung und das weitere Drumherum die AfD und die Querdenker auf ein Podest gehoben werden. „Wir werden sie aber nicht immer auf ein Podest heben!“
Das Ratsmitglied der FDP sagte: „Demokratie ist eine der besten Staatsformen, die wir haben!“
Redner der Partei „Die Partei“ meinte: „Ich verstehe die ganze Aufregung nicht, das war doch alles zu erwarten (die Meinungen Kirschmanns und Böhnes). Wir sollten die Geschichte schnell wieder beenden und zur Sachlichkeit zurückkehren.“
Ein Sprecher der Linken kritisierte, dass die drei größten Fraktionen die kleinen beim Antrag nicht mitgenommen hätten. „Der Antrag der CDU, SPD, Grüne ist richtig und gut!“ – Er kritisiert aber auch: „Die AfD nimmt viel zu viel in der Presse ein!“ – An die drei großen Parteien gerichtet, meinte er zum vorliegenden Antrag: „Das alles ist gut gemeint, aber schlecht gemacht!“
Schließlich war von der AfD-Ratsfraktion zu hören: „Dass er (der CDU-Redner) mit einem Zitat über Säue uns damit meinte, da erwartete ich eigentlich den Einspruch des Bürgermeisters.“ – An den Redner selbst gerichtet, der in seiner Ansprache Kirschmann rhetorisch fragte, ob er denn überhaupt wisse, was Diktatur sei (hier: Corona-Diktatur), sagte der AfD-Redner: „Kirschmann ist Spätaussiedler. Er weiß, was eine Diktatur ist. Darunter hat er gelitten. Man kann das eine oder andere als Diktat bezeichnen, wir bezeichnen es nicht als Diktatur!“ – „Ehrverletzung nach StGB ist strafbar. Ich finde es beschämend, wie sie hier vorgehen!“ (gemeint der Antrag von CDU. SPD und Grüne).

Kann Ratsmitglied nur sein, wer den Anforderungen gewachsen ist?

Dr. Helmut Frenzel bewertete und kommentierte die Ratsdebatte aktuell. Hier ein Auszug seines kritischen Artikels im Online-Magazin Dorsten-transparent:

„Bei dem emotionsgeladenen Hin und Her blieb ein Aspekt unbeachtet. In ihre Begründung des Antrags hatten die Antragsteller hineingeschrieben, dass die beiden betroffenen Ratsmitglieder der AfD den Anforderungen an ein Ratsmitglied ,wertemäßig und intellektuell nicht gerecht werden können oder wollen’, und legen ihnen nahe, ihr Ratsmandat niederzulegen. Damit verlässt der Antrag den Boden der inhaltlichen Auseinandersetzung und gibt ein Urteil ab über die Personen. Dahinter steht offenbar die Idee, dass Ratsmitglied nur sein kann, wer den Anforderungen gewachsen ist. Das ist eine neue Dimension. Aber dieses Kriterium kann ja nicht nur für AfD-Mitglieder gelten. Sollen künftig alle Ratsmitglieder daraufhin überprüft werden, ob sie die Anforderungen an ein Ratsmitglied ,wertemäßig und intellektuell’ erfüllen? Und wenn sie diese – nach wessen Beurteilung auch immer – nicht erfüllen, sollen sie dann ihr Mandat niederlegen?

Vermintes Gelände: Abwertende Urteile über Andersdenkende

Wer das so sieht, der findet in der Vergangenheit durchaus Beispiele, bei denen sich diese Fragen stellen. Wie kann es sein, dass der Rat mit allen seinen Mitgliedern die Ansiedlung des neuen Einkaufszentrums am Lippetor und die damit verbundene Ausweitung der innerstädtischen Verkaufsfläche um 40 Prozent gutheißt – eine Entscheidung, die sich inzwischen als ein kapitaler Fehlschlag erweist. Waren die Ratsmitglieder dieser Entscheidung intellektuell gewachsen? Und wieso haben die Ratsmitglieder nicht den Spekulationsgeschäften mit Schweizer Franken Einhalt geboten und damit Verluste der Stadt von über 40 Millionen Euro verhindert? Waren sie dieser Aufgabe „wertemäßig und intellektuell“ gewachsen? Die Frage wäre durchaus von Interesse, weil maßgebliche Ratsmitglieder, die an den einschlägigen Entscheidungen beteiligt waren, noch heute an führender Stelle im Rat sitzen. Das sind immerhin handfeste Beispiele, bei denen erwiesen scheint, dass die Ratsmitglieder ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen nicht gewachsen waren. Aber keines der Ratsmitglieder hat deswegen aus eigenen Stücken sein Mandat niedergelegt oder wurde dazu aufgefordert. Und wie ist es, wenn ein Ratsmitglied an Gott glaubt und betet und dies öffentlich macht? Kann man da noch annehmen, dass er den Anforderungen an ein Ratsmandat ,wertemäßig und intellektuell’ gerecht wird?

Öffentliche Verunglimpfung im Ratsantrag nicht hinnehmbar

Diese Fälle zeigen, auf welches Terrain man sich begibt, wenn man im Meinungsstreit den Boden der inhaltlichen Auseinandersetzung verlässt. Was die drei Antragsteller CDU, SPD und Grüne mit der Beurteilung von zwei Mandatsträgern bewirkt haben, ist ein Dammbruch. Das ist übrigens nichts Neues. Immer mehr wird es zur Mode, Menschen auszugrenzen und an den Rand der Gesellschaft zu drängen, die eine Meinung außerhalb des allgemein gebilligten ,Meinungskorridors’ vertreten. Das geschieht zunehmend nicht mehr durch inhaltliche Auseinandersetzung mit Argumenten, sondern indem man sie persönlich abwertet oder sie als zu einer bestimmten Gruppe zugehörig ächtet. Besonders beliebt ist die Etikettierung als rechtsradikal. Wer als rechtsradikal eingestuft ist, mit dessen Argumenten braucht sich niemand mehr auseinanderzusetzen. Wenn in einem Ratsantrag, der durch die Presseberichte nach aller Erwartung eine breite Öffentlichkeit erreicht, zwei Ratsmitgliedern die Fähigkeit abgesprochen wird, ihrer Aufgabe im Rat ,wertemäßig und intellektuell’ gerecht zu werden, dann ist das eine Verunglimpfung und eine Grenzüberschreitung. Beides ist, gleichgültig welcher politischen oder sonstigen Orientierung man zuneigt, nicht hinnehmbar. Der Rat der Stadt sollte sich von diesem Passus in dem Ratsantrag von CDU, SPD und Grünen distanzieren.“ – Soweit der Auszug des Kommentar von Helmut Frenzel in www.dorsten-transparent.de

Umstrittenes Ratsmitglied der AfD legt sein Mandat nieder

Vier Monate nach der Kommunalwahl und fünf Wochen nach der im Rat beschlossenen Rücktrittsaufforderung von Bürgermeister, CDU, SPD und Grünen das gescholtene Ratsmitglied der AfD, Ernst Kirschmann, in einem Schreiben an Bürgermeister Stockhoff sein Mandat mit sofortiger Wirkung aus persönlichen Gründen niedergelegt. Nachfolger in der Ratsfraktion wurde Bernd Oesing, bislang Sachkundiger Bürger für die AfD im Bauausschuss.

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