Postfaktisch

Wort des Jahres – Postfaktische „Wahrheiten“ aus dem Dorstener Rathaus

Verkündung durch die in Wiesbaden

Verkündung des Wortes durch die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbade

Selten hat ein Wort die politischen Debatten des Jahres so gut zusammengefasst wie das Wort „postfaktisch“. Am 9. Dezember 2016 hat die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) es zum „Wort des Jahres“ gekürt. Auf Platz zwei und drei landeten Brexit und Silvesternacht. Drei Wochen zuvor war bereits sein englisches Gegenstück und Vorbild „post-truth“ vom „Oxford English Dictionary“ (OED) zum „Word of the Year“ gewählt worden. Man kann sicher sein, dass noch weitere Länder ihre nationalsprachlichen Varianten des Begriffs aufs Podest heben werden.

Offensichtliche Lügen werden akzeptiert

Das Kunstwort „postfaktisch“ ist sperrig, eine Zusammensetzung aus „post“, also nach oder danach, und „Fakt“ für Tatsache – also „nachfaktisch“, was so viel heißen will wie: sich von Emotionen, von Gesichtern und Gefühlen leiten lassen. „Wir leben in postfaktischen Zeiten“, verkündete im September die Bundeskanzlerin vor der Bundespressekonferenz. Sie muss es ja wissen. Postfaktisch soll nach gängiger Lesart bedeuten, daß Gefühlen und Spekulationen mehr geglaubt wird als Tatsachen. Wkipedia definiert es so: „Postfaktische Politik ist ein politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt hinter den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück.“ Die BUndeskanzlerin ist da selbst die beste Kronzeugin. Ihr „Wir schaffen das“ ist nach dieser Definition ein Paradebeispiel für „postfaktische“ Politik. Nimmt man Zeitungen zu Hand oder schaut ins Fernsehen, dann wird dem Leser bzw. Zuschauer mitgeteilt, dass immer größere Bevölkerungsschichten in ihrem Widerwillen gegen „die da oben“ bereit seien, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der „gefühlten Wahrheit“ führe im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg.

Postfaktisches – nicht die Wahrheit – dient zur Beruhigung der Bürger

Ein im November 2016 im ZDF gesendetes Beispiel zeigt, wie deutsche Politiker postfaktisch „argumentieren“. Die Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge (BAM) veröffentlichte erstmals Zahlen, wie viele Flüchtlinge mittlerweile in Arbeit und Brot gekommen seien. Das waren bundesweit etwa 3.800. Das ZDF berichtete darüber in den Nachrichten udn gleich darauf in einer Sondersendung, in welcher der zuständige Kanzleramtsminister Klaus Altmeier interviewt wurde. Bei diesem sprudelte es schnell und deutlich heraus, dass sie, die Regierung, bereits „mehrere Zehntausend in Arbeit gebracht habe und die nächsten Zehntausend werden folgen“. Damit vermittelte er „postfaktisch“, dass die Regierung wohl alles im Griff habe und die Bürger sich keine Sorgen machen müssten. Die Regierung werde das „schaffen“. Diese Zahlen des Staatsministers wurden vom Interviewer übergangen und auch dem Zuschauer gegenüber nicht erklärt, wo dieser doch Sekunden vorher noch die regierungsamtliche Zahl 3800 hörte. Der Redakteur der kurzen ZDF-Sondersendung sagte lediglich, dass das Interview vor der Sendung aufgenommen worden war.

Postfaktisches aus der Dorstener Stadtkämmerei

Auch in Dorsten gibt es „postfaktische“ Beispiele, auf die Dr. Helmut Frenzel, Mitherausgeber des Online-Magazins „Dorsten transparent“ – auch ohne den Begriff zu verwenden – immer wieder hinweist. Zuletzt mit Erläuterung des Begriffs in seinem Beitrag vom 1. Dezember 2016 „Postfaktisch – Was der Stadtkämmerer im Rat über das Haushaltsergebnis 2015 erzählt. Es sind sich widersprechende ,Wahrheiten’. Doch welche stimmt?“ Der Artikel setzt sich mit der öffentlichen Darstellung des Stadtkämmerers für das Haushaltsjahr 2015 auseinander und weist durch Auszüge aus Reden, Beschlussvorlagen und Protokollen nach, wie „postfaktisch“ der Kämmerer immer wieder den hohen Schuldenberg von Kassenkrediten und den Versuch durch Zockerei und Währungsspekulationen zu erklären bzw. zu verschweigen versuchte. Dabei geht es um zweistellige Millionenverluste, die den Dorstener Bürgern möglich ferngehalten werden. Die Darstellung, dass es 2015 erstmals einen Haushaltsüberschuss gegeben habe, wurde mit viel Freude und Hoffnung und ohne Nachfragen aufgenommen. Allerdings, so Frenzel, den vom Kämmerer angekündigten Überschuss von zwei Millionen Euro gab und gibt es nicht. Das Gegenteil davon ist der Fall. Nachzulesen in Dorsten-transparent, Link siehe unten.

Nur Fakten, die ins eigene Weltbild passen

Schon der griechische Philosoph Epiktet hatte festgestellt: Nicht die Tatsachen bestimmen über das Zusammenleben, sondern die Meinungen über die Tatsachen. Daraus entsteht dann die Gefühlsdemokratie, von der zurzeit immer häufiger die Rede ist. Das Wissen und die wahren Gegebenheiten, die historischen Ursachen und die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen: das alles zählt nicht. In der postfaktischen Wahrnehmung stören Fakten, die nicht ins eigene Weltbild passen, man will die Tatsachen eigentlich nicht so genau wissen. „Das, was man fühlt, ist auch Realität“, ist ein typischer postfaktischer Satz. Aus der Politik weiß man, dass Diktatoren und Demagogen sich gerne dieser Methode bedienen, die Wahrheit wird für die eigene Ideologie zurechtgebogen. Die Folge: viel menschliches Leid, unschuldige Opfer und Zerstörung.
Aus der Psychopathologie könnte man die Umschreibung „verzerrte Realitätswahrnehmung“ benutzen. Und vielleicht, wenn man will, aus der Literatur Anleihen machen bei Cervantes: Don Quijote hält Hammelherden für mächtige Heere, die er attackiert; er meint, eine Barbierschüssel sei ein wertvoller Helm; und er ficht einen blutigen Kampf mit Schläuchen, in denen nur roter Wein fließt. Postfaktische Menschen sind in gewisser Weise also die Ritter von der traurigen Gestalt unserer Zeit. – Kommentierte ein Facebook-Nutzer den Ausspruch des Philosophen Immanuel Kant „Habe den Mut, dich deines eigenen Versndes zu bedienen!“ mit „intellektuelles Weichei!“


Quellen:
Dr. Helmut Frenkel in  Dorsten-transparent vom 1. Dez. – hr-Info vom 2. Dezember 2016. – Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) Wiesdane, Pressestelle.

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