Karneval (Essay)

Ende des 19. Jahrhunderts bekamen die Narren neue Impulse

Von Wolf Stegemann – In den Tagen vor Fastnacht, zumeist am Rosenmontag und Fastnachtsdienstag, war es in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts im Vest üblich, dass die heiratsfähigen jungen Männer einer Bauer- oder Nachbarschaft sich verkleideten und maskierten. Sie zogen von Haus zu Haus und bekamen Eier, Würste und Lebensmittel. In Gahlen und Üfte nennt man das heute noch „Wurstjagen“. Die Behörden verboten diesen Brauch mehrmals, weil er als Bettelei und somit als Verstoß gegen die guten Sitten und als ruhestörender Lärm angesehen wurde.

Straßenkarneval

Straßenkarneval

Am Fastnachtssonntag hatte der kurfürstliche Richter die Ratsherren und Gildemeister zum traditionellen Hühneressen eingeladen, zu dem die Stadt einen Beitrag stiftete. Am Fastnachtsdienstag wurde eine Strohpuppe an der Lippebrücke angezündet und in den Fluss geworfen. Die beiden Bürgermeister gaben am Aschermittwoch den Ratsherren und Gildemeistern ein „Aschedagessen“, für das die Stadt zehn Taler zur Verfügung stellte. Durch die Einführung des 40-stündigen Gebets an der Wende vom 19. zum 20 Jahrhunderts wurden auch die letzten noch erhaltenen Fastnachtsbräuche unterbunden und waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts fast überall im Münsterland ausgestorben. Neue Impulse kamen am Ende des  Jahrhunderts auf, als in den Städten Karnevalsvereine gegründet und Rosenmontagszüge durchgeführt wurden, auch entwickelte sich der Vereinskarneval in den Bauerschaften. Zu Karneval 1937 hatte die örtliche Parteileitung der NSDAP auf Anordnung der Kreisleitung allen politischen Leitern und Parteigenossen das Tragen des Dienstanzugs (Uniform) sowie des Parteiabzeichens während des Karnevals in der Zeit vom 5. bis 9. Februar verboten. Ausnahmen mussten bei der NSDAP-Ortsgruppe beantragt werden.

„Durch die Kreisleitung werden die politischen Leiter und Parteigenossen darauf hingewiesen, dass das Tragen des Dienstanzuges (Uniform) sowie das Tragen des Parteiabzeichens auf allen karnevalistischen Veranstaltungen untersagt ist“ (Dorstener Volkszeitung vom 5. Februar 1937).

„Kunterbunt im Sängerbund“ war 1939 die erste größere Sitzung

Karnevalsprinz

Will man der „Dorstener Volkszeitung“ und dem „General-Anzeiger“ vom 23. Januar 1939 glauben, dann war diese Veranstaltung im Gesellenhaus die erste größere Karnevals-Sitzung in Dorsten überhaupt. Beide Zeitungen überschlugen sich vor Enthusiasmus für diesen Karneval; eine solche Berichterstattung kam ansonsten nur dann vor, wenn es um den Führer oder die NSDAP ging. Der Krieg war im Januar 1939 noch nicht in Sicht. Daher konnte noch ausgelassen gefeiert werden. Und das taten die Dorstener. „Die Wogen des Dorstener Karnevals schlugen im Gesellenhaus hoch“ schrieb der General-Anzeiger, „das Publikum kam, sah und staunte“ und brach „in wahre Heiterkeitsstürme“ aus. Veranstalter dieser Karnevalssitzung war der Dorstener Sängerbund. Daher stand auch das Lied vom Gassenhauer bis zum umgeschriebenen Schiller-Lied von der Glocke im Mittelpunkt. Zum Dorstener Karnevalsschlager entpuppte sich das Lied vom Blumental, dessen erste Zeilen stark an Heinrich Heines Vers „Mein Fritz“ erinnern:

„Wo in Dorsten die Bohnen blühn,
der Spinat, das Suppengrün,
wo in der Laube der Kaffee schmeckt
und die Jugend Streiche ausheckt,
dort gibt es lauschige Ecken,
auf Wegen mit dunklen Hecken.
Und am Abend spricht der Bursch zur Maid,
und sein Herz klopft voller Freud!
Refrain:
„Mädel, komm mit ins Blumental,
Mädel, küss mich zum letzten Mal,
Mädel, ich bleib dir treu,
Mädel, sei nicht so scheu,
Mädel, du bist mein liebster Schatz,
Mädel, komm mit zum stillen Platz,
denn in der Lippestadt
küsst man sich satt!“

Höhepunkt war der Auftritt des Karnevalspräsidenten „Onkel Heinz“ (Heinz Sensen), der mit Humor das städtische Leben Ende der 1930-er Jahre in Dorsten betrachtete. Ihm folgten weitere Büttenredner wie C. P. Feuerboom als „Jan Schulte-Bohnenkamp“, „Karl und Franz“, auch als „Schaf und Eierkopp“ bekannt, und Willi Dittgen, der den Charakter des Blumentals zum Gegenstand seiner humorigen Ausführungen machte. Im zweiten Teil des Abends trat „Tante Stina ut de Herrlichkeit“ (Sangesbruder Koch) auf, dessen Vortrag über Erlebnisse in Dorsten Lachsalven auslöste. Er nahm auch die Vestische Straßenbahn aufs Korn, in der man „für billiges Geld“ seekrank werden konnte. Natürlich wurde auch der anwesenden Parteiprominenz gedacht. NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine „erhielt unter viel Beifall“ auf der Bühne vom Elferrat den „Dorsteraner Orden“.

Karneval im Kloster; Sr. Paula (Tisa von der Schulenburg, l.)

Karneval im Ursulinenkloster; Sr. Paula (Tisa von der Schulenburg), vorne links

Prinz wollte Prinzenkette nicht mehr herausgeben

In Dorsten gibt es heute folgende Karnevalsvereine, die in der Arbeitsgemeinschaft Dorstener Karnevalsvereine zusammengefasst sind: Dorstener Karnevals-Gesellschaft (DKG), Holsterhausener Carnevals-Club (HCC), KG Wulfenia (1970), Karnevals-Club Hervest (KCH), Rote Funken Holsterhausen und die Dorstener Altstadt-Narren. Dass Karnevalisten nicht immer Humor haben, zeigt jener Vorfall, der im Januar 1983 vor dem Dorstener Amtsgericht verhandelt werden musste. Ex-Prinz des Holsterhausener Carneval Clubs (HCC) Peter Heldt wollte seinem Nachfolger die Prinzenkette nicht übergeben, damit dieser im vollen Ornat seinem närrischen Amte walten konnte. Da auch gutes Zureden nicht half, bemühte der Verein das Amtsgericht. Heldt wurde verurteilt, die Kette herauszugeben. Er hatte sich deshalb geweigert gehabt, sie seinem Nachfolger zu übergeben, weil er vom Vorstand keinen Narren-Orden verliehen bekam.

Auftritt vor dem Amtsgericht

Elf Jahre später, im August 1994, trafen sich die Holsterhausener Karnevalisten erneut vor Gericht, diesmal bei einer Berufungsverhandlung vor dem Landgericht in Essen. Das Dorstener Schöffengericht hatte ein halbes Jahr zuvor den Geschäftsführer einer Gastspieldirektion wegen Meineids zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe und zu 6.000 DM Geldbuße verurteilt. Was war geschehen? In der Saison 1991 hatte der Duisburger Geschäftsführer der Gastspieldirektion ein Künstler-Duo aus Holsterhausen vermittelt, das aber aus Termingründen nicht auftreten konnte. Ob nun dies vorher zwischen den Holsterhausenern und der Agentur abgesprochen war, darüber stritten sich die Parteien vor Gericht. In dem in dieser Sache vorangegangenen Zivilprozess verloren die Holsterhausener und zeigten daraufhin den Geschäftsführer der Agentur bei der Staatsanwaltschaft wegen Falschaussage an. Das Dorstener Schöffengericht beurteilte die Aussagen der HCC-Vertreter als glaubwürdig, den Geschäftsführer aber nicht. Der legte Berufung gegen die Verurteilung ein und bekam vom Landgericht Essen einen Freispruch, weil nicht mehr geklärt werden konnte, ob eine vorherige Absprache erfolgte.

Rosenmontagszug 2016 wegen Sturmwarnung abgesagt

Nach gemeinsamer Beratung mit dem Festkomitee „Dorstener Karneval“ (FDK), dem Ordnungsamt, der Feuerwehr und Polizei wurde am Morgen des karnevalistischen Rosenmontags 2016 der Rosenmontagszug abgesagt, weil Sturmböen bis 100 km/h vorhergesagt waren. Betroffen waren 23 Gruppen mit ihren Wagen. Die Zeltveranstaltung auf Maria Lindenhof wurde am Montagmorgen durch den Veranstalter abgesagt. In Raesfeld fand der traditionell gut besuchte Rosenmontagszug statt.

Karnevalszüge in Holsterhausen und der Innenstadt 2019

Der Rosenmontagszug 2019 ging nachmittags vom Recklinghäuser Tor ab, bog  in den Südwall in Richtung Hardt ein, dann über den Georgsplatz und die Klosterstraße zum Westwall, vorbei an den Mercaden und löste sich in Höhe der Eissporthalle auf. Rund 25 Gruppen waren dabei. Darunter Altbekannte wie auch Neulinge. Es gab zwar einen Prinzenwagen, aber kein Prinzenpaar. Stattdessen standen verkleidete Bergleute auf dem Wagen. – Am Sonntag zuvor gab es in Holsterhausen-Dorf den mittlerweile traditionellen Kinderkarnevalszug. Der sich mit Musikgruppen wie ein Lindwurm durch die Straßen schlängelt, an denen teils ebenso verkleidete Zuschauer standen. Mehr als 20 Gruppen waren beteiligt, darunter Schulklassen, der Schützenverein Holsterhausen-Dorf, die St. Bonifatius-Pfadfinder, die „Emmelkämper“, um einige zu nennen.

Rosenmontagszug 2020 – Nieselregen, 23 Gruppen und 4000 Zuschauer

Trotz anderer Erwartungen zeigte sich das Wetter gnädig. Musste der Kinderkarnevalszug am Sonntag in Holsterhausen wegen Regen und Sturm abgesagt werden, startete anderntags der Rosenmontagszug trotz Nieselregens mit 23 Gruppen (Foto)diesmal wieder an der Eishalle und endete am Südwall – verlief also im Vergleich zu den vergangenen Jahren in umgekehrter Richtung. Das hatten einige Zuschauer offenbar nicht mitbekommen. Sie standen sich ab 14 Uhr am Südwall die Beine in den Bauch und mussten fast 75 Minuten ausharren, bis der Zug endlich an ihnen vorbeizog. Normalerweise bildet der städtische Entsorgungsbetrieb das Schlusslicht beim Rosenmontagszug. In diesem Jahr fuhr er auch vorneweg – in Person des Bürgermeisters auf einem gelben Rad mit roter Mülltonne. Wenige Minuten, nachdem der närrische Lindwurm vorbeigezogen war, sah es auf den Straßen wieder aus, als wäre nichts gewesen. Rund 4000 Menschen verfolgten den Zug. Das waren weniger als im letzten Jahr. Es gab keine Zwischenfälle (Quelle: Stefan Diebäcker in DZ vom 25. Febr. 2020).

Holsterhausener Carnevals Club (HCC) 1972 gegründet

Der Holsterhausener Carnevals Club (HCC) wurde 1972 von den Herren Gerd Gollub, Erich Joswig, Peter Kobylski, Karl-Heinz Ludwig, Willi Norkowski, Egon Tellner, Rudi Tellner und Hermann Vahrenhorst gegründet. Es war eine reine Männer-Gesellschaft. Denn erst 1978/79 fand die erste Mitgliederversammlung mit Frauen statt. 1981 stellte der HCC das erste Kinderprinzenpaar und 1984 das erste Stadtprinzenpaar. – Im Dezember 2018 amtierten im Vorstand: 1. Vorsitzender Robert Keiner, 2. Vorsitzende Melanie Lokies-Wiesker, 1. Geschäftsführer Edgar Demberg, Schatzmeisterin Brigitte Salzburg.

Karnevalsgesellschaft „Wulfenia“ gibt nach 50 Jahren auf

Die älteste Karnevalsgesellschaft in Dorsten, die „Wulfenia“, wird nach fünf Jahrzehnten 2019 aufgelöst und aus dem Vereinsregister gestrichen. Bleiben dann noch die Altstadt-Narren und der Holsterhausener Carnevals-Club (HCC), die aber auch nicht frei von Sorgen sind. Das Ende des Wulfener Karnevals nach 48 Jahren hat vor allem zwei Gründe. Es gibt zu wenige Mitglieder, die sich für den Verein engagieren. Zudem sind sie überaltert.

Urgestein des Dorstener Karnevals

Fred Kaiser, Urgestein des Dorstener Karnevals und langjähriger Vorsitzende der Altstadt-Narren, starb 2018 im Alter von 81 Jahren. Als Mitglied der DKG war Fred Kaiser zweimal Stadtprinz und gründete nach deren Auflösung die Dorstener Altstadt-Narren, die er bis zu seinem Tod führte. Durch seine guten Kontakte wurden Freundschaften zu vielen Karnevalisten quer durchs Revier geknüpft und gepflegt. Auch kümmerte er sich um den Dorstener Rosenmontagszug und seit über 25 Jahre war Fred Kaiser beim Kinderkarneval in der Haldenwang-Schule zu Gast und prämierte die schönsten Kostüme mit Orden und kleinen Geschenken.

Überraschung: Altes Stadtprinzenpaar bleibt 2024 auf dem Thron

Die freudlose Zeit hat auch für die Dorstener Narren ein Ende gefunden: Punkt 11:11 Uhr wurde am Samstag (11.11.) die fünfte Jahreszeit mit der Vorstellung des neuen Stadtprinzenpaares eingeläutet. Feierte man im vergangenen Jahr noch die Inthronisation mit einer großen Gala, gab man sich in diesem Jahr aus gutem Grund etwas bescheidener: Der Ratssaal des Dorstener Rathauses bot den Narren einen würdigen Rahmen für die Kür des neuen Prinzenpaares. Bürgermeister Tobias Stockhoff, dem an diesem Tag eine besonders wichtige Narren-Rolle zukam, entthronisierte das bisherige Prinzenpaar, Stefan I. und Sonja I. (Muth), indem er Prinz Stefan von Feder Zepter, Feder und Prinzenkette befreite und anschließend Prinzessin Sonja die Krone abnahm.
Doch wer sollte als Nachfolger das neue Prinzenpaares werden? Der 1. Vorsitzende des Festkomitees Dorstener Karneval (FDK), Rudolf Haller, meinte bei der Begrüßung (mit Augenzwinkern): „Ich hatte gestern noch Bürgermeister Tobias Stockhoff gefragt, ob er das machen würde, doch der hat abgelehnt.“ Von Bürgermeister Tobias Stockhoff gab erste Hinweise: „So viel kann ich schon verraten, das neue Prinzenpaar hat bei den Vornamen die gleichen Anfangsbuchstaben wie das bisherige Paar.“ Des Rätsels Lösung: Das bisherige Königspaar Stefan I. und Sonja I. hatten sich bereit erklärt, ihre Regentschaft für ein weiteres Jahr zu verlängern. Und so konnte Tobias Stockhoff dem neuen und alten närrischen Dorstener Tollitäten die karnevalistischen Insignien gleich wieder anlegen. „Auf eine Gala hatten wir in diesem Jahr verzichtet, weil das Prinzenpaar identisch ist“, erläuterte der Vorsitzende des Festkomitees. Schließlich wolle man auch die Kosten für das Prinzenpaar nicht ausufern lassen. Schon am 12. Februar (Rosenmontag) ist wieder alles vorbei. Haller hofft darauf, dass sich beim nächstjährigen Dorstener Rosenmontagszug mehr Vereine beteiligen und wieder 30 Wagen (2022: 25 Wagen) – wie in der Vor-Corona-Zeit – am Start sind. Groß gefeiert wird aber auch. Am 3. Februar startet der Kappenball 2024 in der Gaststätte Adolf in Holsterhausen.

  • Der kölner Rosenmontagszug zeigte am 12. Februar 2024 Bundeskanzler Olaf Scholzauf einem gro0en Plakat als Faultier, das dann friedlich schlummernd mitfuhr. Das Geschöpf stehe „für die ganze Leidenschaft und Dynamik, mit der Kanzler Scholz die Regierungsgeschäfte führt“, sagte Zugleiter Holger Kirsch. Den russischen Präsidenten Wladimir Putin, den chinesischen Staatschef Xi Jinping und Irans Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei zeigen die Kölner Karnevalisten als Trio mit einem Brett vor dem Kopf. Auch die Gendersprache wird im größten deutschen Karnevalszug persifliert.

Quellen: Dorstener Volkszeitung vom (?) Januar 1939. – General-Anzeiger vom 23. Januar 1939. – Paul Fiege in RN vom 21. Dezember 1985. – Diverse Dorstener Zeitungsartikel. – DZ vom 13. Nov. 2023.

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