Abschiebepraxis V

Fall Ana Maria Domingo: brutal, rücksichtslos und „eklatant rechtswidrig“

Von Wolf Stegemann – Um Ana Maria Domingo loszuwerden, hatte sich die klamme Stadt nicht lumpen lassen. Mit einer Chartermaschine hat sie 2005 die damals 36-jährige Asylbewerberin nach Angola schaffen lassen. Die Aktion kostete das Dorstener Amt den Anteil von rund 32.000 Euro. Dass Ana Maria Domingo eine damals zweijährige Tochter namens Ernestina Jamima hatte, die von der Mutter getrennt wurde, hielt das Ausländeramt von der Abschiebung nicht zurück, obwohl das Grundgesetz als auch diverse andere Gesetze eine Trennung Mutter und Kind verbieten. Doch die Mitarbeiter des Ausländeramtes ignorierten das – und der Rechtsbeigeordnete legte keinen Einspruch ein.

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Ana Maria Domingo mit dem Bild der Tochter Ernestine Jamina

Das Mädchen musste beim Vater bleiben, der aus dem Kongo stammte und in Pforzheim lebte. Als das Kind abgeholt werden sollte, wurde es aber nicht angetroffen und blieb somit beim Vater. Wegen „fehlender Rechtsgrundlagen“ hatte sich das Regierungspräsidium Karlsruhe zuvor geweigert, die Kleine schon einige Tage vor der Abschiebung dem Jugendamt zu übergeben. Die abgeschobene Angolanerin saß nach ihrer Abschiebung zwei Jahre lang in einem Gefängnis in Angola und reiste 2008 wieder in die Bundesrepublik ein. Sie lebt seither zusammen mit ihrem Mann und ihrem Kind geduldet in Pforzheim, ihr Kind mit Aufenthaltsgenehmigung.
Anstatt die Sache auf sich beruhen zu lassen, denn durch die Dorstener Abschiebung kam die Frau ins Gefängnis, schickte ihr die Stadtverwaltung, nachdem die Frau wieder zurück war, eine Rechnung über einen Teil der 32.000 Euro anteiligen Kosten ihrer Abschiebung. Daraufhin verklagte der Rechtsvertreter der Angolanerin, Rechtsanwalt Karl-Joachim Hemeyer (Tübingen) die Stadt Dorsten wegen unrechtmäßiger Abschiebung vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. „Das ist der schlimmste Fall, den ich in 30 Jahren erlebt habe. Was dort geschehen ist, war offenkundig rechtswidrig“, sagt der erfahrene Tübinger Jurist. In einem  „gnadenlos praktizierten Abschiebungseifer“, schrieb Hemeyer in seiner Klageschrift, habe die Dorstener Behörde die Amtsgerichte in Dorsten und Frankfurt – sie verfügten die Abschiebung – „grob fahrlässig“ und „in fehlerhafter Weise“ falsch informiert. Dass die Richter die Rechtslage nicht überprüften, sei ihnen nicht vorzuwerfen, sie könnten sich „normalerweise auf die Einschätzung der Ausländerbehörde verlassen“.

Stadt wollte oder konnte ihren Rechtsbruch nicht erkennen

Tochter ERnestine Jamina

Ernestine Jamina war damals zwei Jahre

Im Dorstener Rathaus hätten daraufhin alle Alarmglocken schrillen müssen: Beim Ausländeramt, beim Rechtsbeigeordneten und beim Bürgermeister. Sie alle hätten juristischen Sachverstand einholen müssen. Stattdessen rechtfertigte die Leiterin der Ausländerbehörde ihre Entscheidung: „Eine rechtswidrige Rückführung der Klägerin vermag ich nicht zu erkennen“. Das zwei Jahre alte Kind habe man schon deshalb in das vom Bürgerkrieg schwer gezeichnete Land abschieben können, weil sich „aufgrund der Lageberichte des Auswärtigen Amtes die allgemeine Versorgungslage in Angola kontinuierlich verbessert“ habe. Eine absurde Begründung, befand Rechtsanwalt Karl-Joachim Hemeyer, weil es für das kleine Mädchen „keine Überlebensperspektive“ gegeben hätte. Die Ausländerbehörde, so der Anwalt, „wollte hier auf Biegen und Brechen die staatliche Macht durchsetzen“ (entnommen Martin Ahlers „Ausländeramt: Im Charterjet nach Angola abgeschoben“ in WAZ vom 12. November 2010).

Das Gericht: Verhalten der Stadt als „eklatant rechtswidrig“ verurteilt

Mitte November entschied die 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen über die Rechtmäßigkeit der Abschiebung. Das Verhalten der Stadt Dorsten wurde vom Vorsitzenden Richter Dr. Martin Brodale als „eklatant rechtswidrig“ verurteilt. Noch im Gericht verzichtete die Stadt, vertreten durch die Leiterin des Ausländeramtes, auf ihre Forderung an die Angolanerin, für die rechtswidrige Abschiebung 32.000 Euro zu zahlen. Diese Kosten, zu denen noch erhebliche andere Kosten durch den verlorenen Prozess dazukamen, blieben beim Steuerzahler hängen. Auf 102.000 Euro hätten sich die Kosten für den eigens gebuchten Charterjet belaufen, merkte das Gericht an. Die zu Unrecht Abgeschobene erwog strafrechtliche Schritte gegen die Stadt. In Rede standen unter anderem Freiheitsberaubung und Schmerzensgeld.

Ihm, dem Richter, sei „kein anderer Fall bekannt, in dem die Trennung einer Mutter von ihrem Säugling durchgesetzt wurde“, führte der Vorsitzende aus. Auch der Versuch, ein Kleinkind in das Land mit der weltweit zweithöchsten Kindersterblichkeit abzuschieben, sei nicht nachzuvollziehen. Das Kind wäre damit „schwersten Gefährdungen bis zum Tod“ ausgesetzt worden. Dass in einem solchen Fall nicht abgeschoben werden dürfe, sei bis heute gängige Rechtsprechung aller Gerichte. Somit habe ein eindeutiges Abschiebungsverbot für das Kind bestanden, ebenso ein Abschiebehindernis für die Mutter.

Stadtverwaltung zieht sich auf “Rechtsanwendungsfehler” zurück

Im Übrigen widerspreche die Trennung von Mutter und Kind „dem Menschenbild der Verfassung“: „Die Abschiebung der Frau war rechtswidrig, weil man Mutter und Kind nicht trennen durfte. Das ist in Artikel 6 des Grundgesetzes geregelt. Für die Tochter hätte Gefahr für Leib und Leben bestanden. … Und stellen sie sich nur vor, das Mädchen wäre mit abgeschoben worden und jetzt tot. Zum Glück blieb die Kleine ja in Deutschland.“ Auch habe die Dorstener Behörde „deutlichste Hinweise“ der Pforzheimer Verwaltung ignoriert, die vor dem Abflug darauf hingewiesen hatte, dass mit der Abschiebung der Tatbestand der Kindesentziehung erfüllt sein könnte. Und weiter heißt es in dem Urteil: Den Abschiebungsschutz, den das Bundesamt für Flüchtlinge für das Kind verfügt hatte, habe das Dorstener Ausländeramt eigenmächtig aufgehoben. Ob sich die Versorgungslage in Angola verbessert habe, „darüber habe das Bundesamt zu entscheiden, nicht ein einzelner Sachbearbeiter aufgrund eines Lageberichts“, schrieb Dr. Martin Brodale der Amtsleiterin ins Stammbuch. Den Rat der Stadt informierte Dorstens Rechtsdezernent Gerd Baumeister mit dem Satz: Es habe „einen Rechtsanwendungsfehler“ gegeben und kündigte „Überlegungen für bessere Kontrollen der Rechtmäßigkeit“ an.

Entschuldigung des Bürgermeisters per Brief

Erst nach dem Richterspruch erkannte auch Dorstens Bürgermeister Lambert Lütkenhorst das Leid, das seine Verwaltung der Frau und dem Kind zugefügt hatte. In einem Brief entschuldigte er sich bei der Angolanerin Ana Maria Domingo: „Sie waren Opfer einer rechtswidrigen Abschiebung, unter der Sie persönlich gelitten haben, unter der Ihr Kind schwere Angst um seine Mutter haben musste.“ Noch schwerer als der Richterspruch treffe es die Verwaltung, so heißt es in dem Brief, dass das Abschiebeopfer „in menschenunwürdiger Art und Weise in seinem Heimatland Unterdrückung und Gefängnis erleiden musste“.

Vierstündige Debatte im Rat – dann Schlussstrich

Die rechtswidrige Abschiebung schlug auch im Rat der Stadt hohe Wellen. SPD und Linke forderten eine „lückenlose Aufklärung und Konsequenzen“.  Dem kam die Verwaltung teilweise nach und „entmachtete“ das Ausländeramt, indem ihm die selbstständige Wahrnehmung von Rechtsstreitigkeiten entzogen wurde. Entscheidungen über ähnlich schwere Abschiebungen werden künftig nur noch mit der Unterschrift des Rechts-Beigeordneten vollzogen. Ein unabhängiger Jurist einer Nachbarstadt wird allerdings den Fall hinsichtlich personeller Disziplinarkonsequenzen überprüfen. Noch im Dezember 2010 hat der Anwalt der von der Stadt zu Unrecht abgeschobenen Angolanerin Schadensersatz von der Dorstener Verwaltung für seine Mandantin gefordert. Die Stadt erkannte diesen Anspruch an. Für den Schadenersatz kam der Gemeindeversicherungsverband auf. a-abschiebung-textplakatDen vorläufigen Schlussstrich unter die Debatte zog am 15. Dezember 2010 der Rat nach einer vierstündigen Sitzung, in der der Erste Beigeordnete das Verständnis der Verwaltung für deren Arbeit „als bürgerfreundlich und ausländerfreundlich“ herausstellte. Die SPD  lobte die sehr späten, aber angemessenen Konsequenzen, kritisierte jedoch, dass Mitarbeiter auf unterer Ebene in einem Fall entschieden haben, der außerhalb ihrer Kompetenz lag, und ihn dann gnadenlos exekutierte. Die Linken erwarteten, dass der Fall nicht von der Verwaltung aufgearbeitet werde, sondern vom Landrat als Aufsichtsbehörde. Bürgermeister Lütkenhorst räumte „schwere“ und „schwerste“ Fehler ein. Die Stadt werde den Schaden wieder gut machen, weil die Frau „bleibende Schäden“ erlitten habe.

Eine Abschiebung örtlicher Behörden mit einem so genannten Kleincharterflug kann dann in Anspruch genommen werden, wenn eine Abschiebung mit einem Linienflug durch Gefährdung, großen Widerstand auch bei ärztlicher oder Sicherheitsbegleitung nicht durchführbar ist. Zuständig für die Buchung des Kleincharterflugs nach Angola in Höhe von 102.000 Euro war die Bezirksregierung Düsseldorf. Wie die Dorstener WAZ recherchierte, war der nach zwei vergeblichen Abschiebungsversuchen erfolgte Kleincharterflug für Ana Maria Domingo nach Angola auch für deren Tochter und einem weiteren Flüchtling gebucht. „Sechs Bundespolizisten und ein Arzt waren mit an Bord der Maschine der Air Traffic Euro Charter. Der Stadt wurden aber nur 4.265 Euro in Rechnung gestellt – die Kosten für einen Linienflug mit Sicherheitsbegleitung. Die übrigen Kosten gehen zu Lasten der Landeskasse“ (WAZ).

Disziplinarverfahren gegen Mitarbeiter eingestellt

Auf Bitte der Stadt untersuchte Anfang 2011 ein pensionierter Richter des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen, ob im Asylfall der Angolanerin ein Dienstvergehen vorgelegen hätte. Der Bürgermeister leitete Ende März 2011 das Disziplinarverfahren gegen die Mitarbeiter ein. Ebenso der Kreis Recklinghausen, der das Verfahren am 28. September 2011 einstellte. Mit den Worten, dass er „froh und erleichtert“ über die Einstellung des Disziplinarverfahrens gegen zwei Mitarbeiter des Ausländeramtes sei, informierte Bürgermeister Lambert Lütkenhorst daraufhin den Hauptausschuss des Rates.

Die zwei Verwaltungsmitarbeiter, die an der Abschiebung der Asylbewerberin beteiligt waren, die sich nachträglich, so Lütkenhorst, „als riesiges Unrecht herausstellte“, und die das Verwaltungsgericht in seinem Urteil als „eklatant rechtswidrig“ bezeichnete, konnten, so Lütkenhorst, „wieder mit erhobenem Haupt durchs Haus gehen“. Welch eine Aussage, die eklatant im Gegensatz zum oben erwähnten Entschuldigungsschreiben des Bürgermeisters an die Betroffene Angolanerin steht. Weiter sagte er: „Ich hoffe, die öffentliche Diskussion ist nun beendet.“ Mit dem Anwalt der Angolanerin sei die Stadt über die Zahlung des Schadensersatzes im Gespräch. – Und das mit erhobenem Haupt.

Noch Mitte Februar 2010 erklärte Bürgermeister Lütkenhorst beim Neujahrsempfang der CDU öffentlich, dass er im November/Dezember 2010 ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, wegen der aufgrund der rechtswidrigen Abschiebung erfolgten öffentlichen Diskussion, in der man ihm Vorsatz unterstellt hatte, sein Amt niederzulegen. – Es ging ihm dabei, so kann man unterstellen, in erster Linie nicht um den Rechtsbruch der Stadt, sondern um die Diskussion darüber (siehe auch Abschiebepraxis in Dorsten I,  II; III; siehe Französische Emigranten).

Stellungnahme des Personalrats: Empörung über die öffentliche Diskussion

Zur kritischen Wahrnehmung der Politik, der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zu diesem Abschiebefall nahm am 20. Dezember 2010 der Personalratsvorsitzende Karl-Heinz Reimann in der WAZ Stellung (Auszug):

„Der Personalrat der Stadt Dorsten ist empört über die Art und Weise, wie die aktuelle Diskussion über städtische Beschäftigte geführt wird. Ungeachtet des Sachverhaltes verselbstständigt sich die öffentliche Diskussion für uns auf eine geradezu erschreckende Weise. So werden ,Köpfe’ von Mitarbeitern gefordert und die Dorstener Beschäftigten insgesamt beschuldigt, ihre Arbeit nicht gewissenhaft und bürgerorientiert zu erledigen. Wir weisen dies entschieden zurück und bitten um eine faire, sachliche und vor allem konstruktive Kritik. […] Jetzt scheint aber die große Stunde derer geschlagen zu haben, denen die gute Arbeit der Dorstener Ausländerbehörde schon immer ein Dorn im Auge war…“..

Zur Rechtslage: Während ein Rechtsstaat eigene Bürger nicht des Landes verweisen darf (Art. 11 GG), ist die Ausweisung bzw. Abschiebung von Ausländern generell zulässig. Allerdings müssen gemäß Ausländergesetz vom 28. April 1965 erhebliche Belange der Bundesrepublik durch das Verbleiben des Ausländers im Land bedroht sein, ehe eine Ausweisung durch Entzug der Aufenthaltsgenehmigung angeordnet wird. Die Behörden haben dabei einen weiten Ermessensspielraum und können die polizeiliche Abschiebung und dazu notfalls Abschiebehaft verfügen, wenn der Ausgewiesene nicht unverzüglich das Land verlässt. Die Ausweisung von Inländern aus Teilgebieten der Bundesrepublik ist nur zulässig zur Bekämpfung von Seuchen oder zur Vorbeugung von Straftaten (siehe Abschiebepraxis in Dorsten I, II, III, IV; siehe Französische Emigranten; siehe Asyl.)


Siehe auch:
Abschiebung (Artikelübersicht)


Quellen:
DZ vom 25. November 1999. – WAZ vom 21. Januar 2000. – DZ vom 21. Januar 2000. – WAZ vom 8. November 2000. – DZ vom 8. November 2000. – „Urteil: Ehe ist kein Schein“ in DZ vom 22. Mai 2008. – Martin Ahlers „Ausländeramt: Im Charterjet nach Angola abgeschoben“ in WAZ vom 12. November 2010. Martin Ahlers „Abschiebung ohne die Tochter war rechtswidrig“ in WAZ vom 17. November 2010. – M. Engelberg „Wer diesen Bockmist verzapft hat, sollte eigentlich die Kosten tragen“ in BILD vom 18. November 2010. – Michael Klein „Unrechtmäßige Abschiebung: Bürgermeister entschuldigt sich bei Angolanerin“ in DZ vom 19. November 2010. – Martin Ahlers „Konsequenzen gefordert…“ in WAZ vom 2. Dezember 2010. – Klaus-Dieter Krause „Abschiebefall im Rat: Verwaltung muss verlorenes Vertrauen zurück gewinnen“ in DZ vom 15. Dezember 2010. – Stellungnahmen Abschiebung Karl-Heinz Reimann (Personalratsvorsitzender) „Wenig hilfreich“ in WAZ vom 20. Dezember 2010. – Martin Ahlers „Abschiebung per Charterflug kostete 102 000 Euro“ in WAZ vom 25. März 2011. – Klaus-Dieter Krause „Disziplinarverfahren eingeleitet: Kreis wird Asyl-Fall untersuchen“ in DZ vom 6. April 2011.

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