Nach der Tat eines afghan. Asylbewerbers entbrannten politische Debatte
Sie hätte selbst das Opfer sein können, das ahnte die junge Mutter, die an diesem Mittag den Kinderwagen durch den Schöntal-Park im Zentrum Aschaffenburgs schob. Vorbei an jener Stelle, an der ein 28-jähriger Afghane am Tag zuvor zwei Menschen getötet hatte, vorbei an den Blumen, Kerzen und Teddys, die Menschen hier ablegten, verharrten, trauerten.
Aschaffenburg, eine Stadt von 70.000 Einwohnern in Unterfranken, stand unter Schock. „Es fühlt sich an, als sei mein eigenes Kind gestorben“, sagte der SPD-Bürgermeister Jürgen Herzing an dieser Stelle und drückte damit aus, was viele an diesem Tag in der Stadt fühlen. Einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann hatte der Täter hier im Schöntal-Park im Zentrum Aschaffenburgs erstochen. Jetzt strömen viele zu dieser Stelle, an der es geschah. Nur müssen die Menschen in Aschaffenburg auch mitansehen, wie die Trauer im Rest der Welt doch rasch vom politischen Streit verdrängt wird. „Ich verstehe, dass man über die Konsequenzen spricht, ich finde es auch richtig“, sagt die junge Mutter. „Ich finde nur, dass es zu früh ist.“ Aber es sieht nicht so aus, als würde auf diesen Satz in München und Berlin jemand hören.
Leitlinie: „Null Toleranz, null Kompromiss“
Denn die politische Debatte war bundesweit längst im Gange – ein Monat bevor ein neuer Bundestag gewählt wurde. Bei einer Pressekonferenz in München sagte Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder, es werde unter einer unionsgeführten Bundesregierung faktisch einen Aufnahmestopp und eine „Grenzschließung für illegale Migration“ geben. Die migrationspolitische Leitlinie werde „null Toleranz, null Kompromiss“ sein. In Berlin sagte Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz, er werde gleich an seinem ersten Tag als Bundeskanzler das Bundesinnenministerium anweisen, alle deutschen Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen. Auch Asylbewerber mit Schutzanspruch würden dann an der Grenze abgewiesen. „Kompromisse sind zu diesen Themen nicht mehr möglich“, sagte Merz mit Blick auf die potenziellen Koalitionspartner der Union.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hielt dagegen
„Die bayerischen Behörden müssen erklären, warum der Täter trotz mehrerer Gewaltdelikte noch auf freiem Fuß war. Offenbar sind in Bayern dort auch einige Dinge schiefgelaufen“, sagte sie. „Deshalb finde ich jetzt auch die Reaktion der Bayern befremdlich.“ Friedrich Merz‘ Ankündigung zur Grenzschließung an Tag eins seiner möglichen Kanzlerschaft stehe ihrer Ansicht nach nicht mit europäischem Recht in Einklang. Faeser betont stattdessen die zuletzt von der Bundesregierung beschlossenen und im Bundestag verabschiedeten Gesetzesverschärfungen. Die Bundesregierung arbeite zudem intensiv daran, weitere Straftäter nach Afghanistan abzuschieben. Ohne Merz und Söder namentlich zu nennen, sagt sie doch deutlich an beide adressiert: „Ich kann nur sehr davor warnen, eine solch furchtbare Tat für Populismus zu missbrauchen. Das nutzt nur den Rechtspopulisten mit ihrer Menschenverachtung.“ Über den seit Dezember ausreisepflichtigen und psychisch kranken Täter, der auf Anweisung der Ermittlungsrichterin in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurde, wurden immer mehr Details bekannt. Der heute 28-jährige Afghane Enamullah O. war im November 2022 nach Deutschland eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt. Mindestens dreimal war er seitdem durch Gewalttaten aufgefallen. Er sei jeweils zur psychiatrischen Behandlung in Einrichtungen eingewiesen, aber jedes Mal wieder entlassen worden, erklärte Bayerns Innenminister, Joachim Hermann (CSU).
Täter hatte zuvor in der Flüchtlingsunterkunft eine Ukrainerin angegriffen
RTL-Reporter besuchten die Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Aschaffenburg, in der Enamullah O. gewohnt hatte. Eine ukrainische Geflüchtete berichtete dort, O. habe im vergangenen Jahr eine andere Ukrainerin mit einem Messer verletzt. Daraufhin sei er von der Polizei mitgenommen worden, aber bereits am Tag darauf wieder in der Unterkunft aufgetaucht. Die Aschaffenburger CSU-Bundestagsabgeordnete Andrea Lindholz forderte, psychisch kranke Straftäter besser zu erfassen. In Fachkreisen ist man da skeptisch. „Die Diskussion um eine zentrale Erfassung von Menschen mit psychischen Erkrankungen befördert Vorurteile und vergrößert bei den Betroffenen die Angst vor Stigmatisierung“, sagt Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Dann sinke auch die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene Hilfe annehmen. – Wenn Psychiater und Therapeuten Hinweise darauf erhielten, dass ein Patient eine Gefahr für sich oder andere darstelle, könnten sie auch heute schon tätig werden und Menschen gegen deren Willen in einem Krankenhaus oder einer Einrichtung unterbringen. Die Frage, warum das in Aschaffenburg nicht funktioniert hat, wird die Behörden wohl noch länger beschäftigen.
Quelle: Felix Huesmann und Thorsten Fuchs in RN (DZ) vom 24. Januar 2025