Marcin, Nadja Verena

Ihr Werk kreist um die Theatralik des Alltäglichen und den Feminismus

Die in Würzburg geborene und in Dorsten aufgewachsene und jetzt in Berlin und New York lebende Performance-Künstlerin Nadja Verena Marcin studierte an der Kunstakademie Münster und schloss mit einem Diplom ab. Sie begann danach ein freies Studium bei John Bock in Berlin und 2010 ein postgraduiertes Studium an der Columbia Universität in New York (USA). Dort ist sie heute u. a. als Direktorin des Kunstraums LLC in Brooklyn tätig.

Im Bleichhaus Dortmund "Theatralik des Alltäglichen"

Im Bleichhaus Dortmund “Theatralik des Alltäglichen”; Erläuterung dazu am Schluss des Artikels

Das Werk der in Dorsten und New York lebenden Künstlerin Nadja Verena Marcin kreist um die Theatralik des Alltäglichen und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit der Eigen- sowie Fremdwahrnehmung. Mit der steten Verknüpfung der Medien Performance, Video und Fotografie schafft Marcin Arbeiten, die zwischen Flüchtigkeit und Beständigkeit changieren. Unter intensivem Einsatz der eigenen Identität und Körperlichkeit erforscht Nadja Marcin mit ihren Arbeiten die Abgründe und Grenzen unserer sozialen Rollen, vertrauten Riten und der daraus resultierenden Verletzlichkeit.

Szene auch auf dem Dorstener Marktplatz gedreht

Nadja Verena MarcinAusstellungen, Screenings und Performances waren zuletzt im ZKM-Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, Momentum in Berlin, in der Jinsun Gallery in Seoul, Garage Center for Contemporary Art in Moskau, im ICA/Philadelphia, Elizabeth Foundation in New York, Fridericianum in Kassel, bei der Mediations Biennale/Posen und im Kunstmuseum Bonn zu sehen.
2009 lud der Dorstener Kunstverein zu einer Veranstaltung ein. Im Alten Rathauses am Markt war die im April zu großen Teilen in New York gedrehte Performance „Marriage with a donkey“ zu sehen. Dabei drehte die Künstlerin die letzte Szene der Performance auf dem Marktplatz in Dorsten. Zudem zeigte sie vier weitere Videos und Performances: „Fall and rise of a fish“, „Singing in the rain“, „Loss of hearing“, „Jogginggehmusemassnahme“ und die neue Fotoserie der Künstlerin, „No country“.

Klimax dieser Performance von Marcin ist ein fiktives Hochzeitsritual der Künstlerin selbst mit einem Esel. In vorhergehenden Szenen wird die facettenreiche Beziehung der beiden geschildert. Der Charakter der Performance geht einher mit Grimmschem Märchen („Tischlein deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack“) und Shakespearescher Komödie („Ein Sommernachtstraum“), und der Esel lädt auch Marcin ein zu surrealen Eskapaden, die sie bereits in anderer Form in früheren Performances und Videos ausgelebt hat. Der Esel, männlich besetzt, gleichzeitig Symbol für übermäßige Lust und Enthaltsamkeit, das Reittier von Christus, taucht mit seiner vermenschlichten Präsenz Marcins Setting zunächst in ein komödiantisches Licht. Damit erschöpft sich der Inhalt der Performance jedoch nicht. Themen dieser komplexen Performance, gedreht in der Wall Street, in Marcins New Yorker Studio, in der Dorstener Innenstadt, dem Heimatort der Künstlerin, und an zahlreichen weiteren Drehorten sind unter anderen christliche Rituale und Symbolik, Eitelkeit, Verfehlung, Versuchung, Eifersucht und Liebe. Und der Rahmen all dessen die christliche Hochzeit als Heilssuche, als vermeintlicher Höhepunkt einer Partnerschaft, geschlossen zwischen zwei ungleichen Partnern, die nicht derselben Spezies angehören. An den Betrachter sich richtende Anklagen wie „You are the rotten children of the ego world!“ sind die Logik der kritischen Betrachtung von Konvention und Gesellschaft als Autorität, die in Frage gestellt wird. Marcin pointiert anhand von „Marriage with a donkey“ den Unterschied zwischen kommerzieller Sinnsuche, konstruierter Sinnfindung und natürlicher Sinnlichkeit (Greta Gesenberg).

Nadja Verena Marcin "Streetwork"

Nadja Verena Marcin “Streetwork”

Nadja Verena Marcin stellt sich Situationen, die ihr Angst einjagen

Ihre künstlerische Performance für das Kooperationsprojekt zwischen der Werkstatt Bleichhäuschen in Rheda-Wiedenbrück, dem Dortmunder Kunstverein und dem Glaskasten in Marl schafft unerwartete und ungewöhnliche Ortsbezüge zwischen den ausgestellten künstlerischen Arbeiten Marcins und den verschiedenen Ausstellungshäusern. Unter dem Titel „Action Manual Vol. I / II“ zeigt die Künstlerin Nadja Verena Marcin verstörende Videoarbeiten und Fotografien im Dortmunder Kunstverein. Die Ausstellung, Marcins erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland, ist ein Kooperationsprojekt mit der Werkstatt Bleichhäuschen Rheda-Wiedenbrück und dem Skulpturenmuseum Glaskasten in Marl.

Auto-Objekt

“Grazy Car”, Schräges Objekt (Dortmund); Foto: Gay

In ihren Performances stellt sich Marcin Situationen, die ihr Angst einjagen. So begibt sich die zierliche Künstlerin im schwarzen Gymnastikanzug mit Deutschlandbanderole um den Hals in eine litauische Kneipe. Das Video „Are you lonesome tonight“ (2009) zeigt ihre provokanten Versuche, mit den angetrunkenen Gästen in Kontakt zu treten, indem sie vor ihnen herumtänzelt und ihnen ein fiktives Mikrofon unter die Nase hält. Dazu ertönt Elvis‘ Knastsong „Jailhouse Rock“, der in der Untertitelung zum „Artistic Rock“ wird. Marcin hat den Text so geändert, dass er zu einer Reflexion über ihre Künstlerfreunde wird. Am Ende ihrer persönlichen Mutprobe wird die zappelnde Künstlerin vor die Kneipentür gesetzt.

Als weibliche Identitätssuche in einer übersexualisierten Welt

.... Marcin als eoyalkids

Nadja Verena Marcin als eoyalkids

In ihrer vierteiligen Fotoarbeit „No Country“ stand sie 2009 mit verschiedenen Männern vor einer Tropenkulisse Posen aus dem Kamasutra nach. In Interaktion mit einem Japaner trägt sie Oberteil und Rock in den japanischen Landesfarben, ein rot-schwarzes Outfit zusammen mit dem Deutschen in goldgelber Badehose. Immer blickt sie unbeteiligt aus dem Bild heraus. Sie wirkt dabei genauso verloren wie auf dem Foto „Man“, das sie in rotem Höschen in den Armen einer monumentalen Steinfigur zeigt. Ein bisschen wie ein kleines Mädchen, das zum Spielen auf die Skulptur geklettert ist. Gleichzeitig denkt man an King Kong, der die Frau fest im Griff hält. Marcins Arbeiten lassen sich als postfeministische Statements lesen. Als weibliche Identitätssuche in einer übersexualisierten Welt mit ihren Projektionen und Erwartungen an die Frau. Gleichzeitig nimmt Marcin die Rolle der Jugendlichen ein, die den Einstieg in die Erwachsenenwelt nicht schafft. Deutlich wird das vor allem in ihrem Kurzfilm „Kids“ (2011/12), der in New York gedreht wurde. Marcin sieht aus wie ein verstörtes Kind inmitten der Gruppe junger Leute, die beim Diebstahl von Alkohol, beim Drogenmissbrauch und in sexuellen Situationen zu sehen sind. Ihre Arbeit zitiert den Kultfilm „Kids“ von Larry Clark, der die Verbreitung von Aids unter Minderjährigen thematisiert. Original und Remake zeigen ähnliche Figurenkonstellationen, zusätzlich orientiert sich Marcin an Kameraeinstellung und Setting des Originals. Der Film erzählt von Vereinsamung, Außenseitertum und dem Wunsch, dazuzugehören. Am Ende fährt ein rot gepolstertes Auto durch die nächtlichen Straßen von New York und die Künstlerin taucht aus der Dunkelheit auf. Sie schreit.

Science-Fiction-Film in Dorsten Nachbarschaft gedreht

In Dorsten 2009

Kunstverein Dorsten 2009: Ein Esel im Alten Rathaus

2013 drehte die Video-Künstlerin in der Nachbarstadt Szenen ihren 15-minütigen „Science Fiction“-Film „Triple F“, den die Filmstiftung NRW mit 15.000 Euro aus dem Etat für „Low Budget“-Projekte förderte. Wenn alles nach Zeitplan läuft, will Nadja Verena Marcin ihren Science Fiction-Film, der im Jahr 2033 spielt, für die Kurzfilmsparte der Berlinale 2014 anmelden, sagte sie gegenüber der Dorstener WAZ. Als Drehorte dienten das Schloss Rheda, Marls retro-futuristische Mitte und ein Haus in der Dortmunder Innenstadt – mit einem Frauenfußballteam als exotischen Amazonen.

„Ophelia“ – Computer-Animation über Zerstörung und weibliche Intuition

Die Besucher der renommierten Kunstmesse „Art Miami“ (USA) wurden vor ein paar Wochen mit der Video-Skulptur „Ophelia“ der Künstlerin begrüßt, die in dieser Computer-Animation als Ophelia schwebte. Ophelia, die durch Trauer und unerwiderte Liebe verrückt gewordene Frauen-Figur aus Shakespeares Hamlet, hat nun auch die aus Dorsten stammende Form eines Edelstahl-Sarkophags und rezitiert in weißer Kleidung und einer transparenten Atemmaske Texte über die begrenzte menschliche subjektive Wahrnehmung. Mit „Ophelia“ geht es im März 2018 zum Minnesota Street Project in San Francisco (unterstützt vom Goethe-Institut), dann zur Nube Gallery in Santa Cruz, Bolivien, im Frühjahr und Sommer zum Gallery Weekend Berlin, ins Museum Schauwerk in Sindelfingen, nach Köln und im November nach Rom. Nadja Verena Marcin zeigt sich damit wieder einmal mehr als eine Medienkünstlerin, deren Arbeit sich auf menschliches Verhalten, elementare Emotionen und psychologische Reaktionen in den Medien Video, Fotografie und Live-Performance konzentriert.

Ausstellungen und Performances in vielen Ländern der Welt

Ausstellung in der Galery 532 New York

Ausstellung in der Galery 532 New York

2012: Action Manual Vol. I, Dortmunder Kunstverein, Dortmund, Deutschland, kuratiert von Sandra Dichtl. – Action Manual Vol. II, Orangerie at Schloss Rheda and Werkstatt Bleichhäuschen, Rheda Wiedenbrück, Deutschland, kuratiert von Melanie Körkemeier. – Reise nach Ägypten, Kollaboration von Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Dortmunder Kunstverein und Werkstatt Bleichhäuschen, Rheda, Deutschland, kuratiert von Sandra Dichtl, Melanie Körkemeier und Georg Elben. – Staging the world – performing the floor, Momentum, Berlin, Deutschland, kuratiert von Veit Rieber. – 2011: The-Solo-Project, Jens Fehring Gallery, Basel, Schweiz. – Lost in translation, Jens Fehring Gallery, Frankfurt, Germany. – 2009: Confessions of a Donkey, Kunstverein Dorsten, Deutschland, kuratiert von Greta Gesenberg. – 2008: Loss of hearing, g727 Galerie, Los Angeles, USA, kuratiert von Francisco Marcial. – 2007: As in sciencefiction, Galerie der Kunstakademie Münster, Münster, Deutschland. – 2006: Lend me your doberman, Galerie Kapinos, Berlin, Deutschland, kuratiert von Greta Gesenberg. – Miss Ion Troja X, Cuba Cultur e.v., Münster, Deutschland, kuratiert von Andreas Weber. – 2005: To preview, Galerie Münsterland, Emsdetten, Deutschland. – Süss/Sauer angemacht, Büro für Alleskönnerei, Gütersloh, Deutschland, kuratiert von Oliver Lang. – Zissin, eine Katze die Mensch werden will, SOX 36, Berlin, Deutschland (P). – Seit 2004 Beteiligung an Gruppenausstellungen und Festivals in New York, Prag, Karlsruhe, Miami, Plovdid (Polen), Kassel, Angelholm (Schweden), Bilbao (Spanien), Seoul (Korea). Rom, Frankfurt am Main, Moskau, Nice (Frankreich), Philadelphia , Münster, Montreal, Stadt Mexiko, Budapest, Osnabrück, Stuttgart, Tel Aviv und in vielen andere Städten und Ländern.

Künstliche Intelligenz trifft auf Kunst und Feminismus

Die Künstlerin präsentierte von Ende 2021 bis Mitte Februar 2022 im Kunstverein Ruhr am Essener Kopstadtplatz ein spannendes Kunstprojekt: Es geht um Künstliche Intelligenz und Feminismus. Was hat Künstliche Intelligenz (KI) mit Feminismus zu tun? Auf den ersten Blick wenig, doch das sieht die aus Dorsten stammende Visual-Arts-Künstlerin Nadja Verena Marcin anders. Mit ihrem Kunstprojekt namens „Sophygray“ möchte sie darauf aufmerksam machen, dass KI-gesteuerte Audio-Bots das Bild von „Weiblichkeit“ und die damit verbundenen patriarchalen und sexistischen Strukturen unbemerkt weiterschreiben. Ein speziell dafür entwickelter Audio-Bot konnte live mit den Besuchern sprechen. Das gespeicherte Wissen des Audio-Bots stammte aus Texten von feministischen Theoretikerinnen. In diesem Zusammenhang werden Chatbots wie Alexa, Siri oder Cortana kritisch reflektiert.

Stipendien und Preise: SOMA residency, SOMA, Mexico DF, Mexico (2013). – Prattsville Artist residency, Art Center, Prattsville, USA; Projektförderung für ‘King Kong Theory’, Puffin Foundation, Teaneck, USA: Nominiert für Preis für Junge Kunst, Nordrhein-Westfalen (2012). – Auslandsstipendium, NRW Kultusministerium, Düsseldorf; DAAD Stipendium- New York, DAAD, Bonn; Deutsche Börse Residency Program, Frankfurter Kunstverein, Frankfurt (2011). – International Studio & Curatorial Program (ISCP) Residenz, New York, USA; Auslandsstipendium, NRW Kultusministerium, Düsseldorf; Projektförderung, Art Student Council, School of the Arts, Columbia Universität, New York, USA; Artist Business Career Development Grant, Artworks International, New Mexico, USA (2010). – Womens Voices, 1. Preis, Musique a la Mode, New York, USA (2009). – MFA Stipendium, Sammlung Falckenberg, Hamburg; Merit Scholarship, Columbia Universität, New York, USA; Visual Arts Fellowship, Columbia Universität, New York, USA (2008). – Fulbright Stipendium, Fulbright Kommission Berlin (2007). – Freemover Stipendium, DAAD, Bonn (2006). – Nomination for Nordrhein- Westfalen Förderpreis für junge Kunst durch die Kunstakademie Münster (2005). – Young Media Award, Bundesjugendfestival, Dresden (2004). – DFJW Stipendium, Deutsch- Französisches Jugendwerk, Berlin–Paris, Deutschland-Frankreich (2003).

Erläuterung des obigen Fotos: Krabbeln – das Werk der Künstlerin Nadja Verena Marcin kreist um die Theatralik des Alltäglichen und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit der Eigen- sowie Fremdwahrnehmung. Mit der stetigen Verknüpfung der Medien Performance, Video und Fotografie erschafft Marcin Arbeiten, die zwischen Flüchtigkeit und Beständigkeit changieren. Unter intensivem Einsatz der eigenen Identität und Körperlichkeit erforscht Nadja Marcin mit ihren Arbeiten die Abgründe und Grenzen sozialer Rollen und vermeintlich vertrauter Riten.


Siehe auch:
Künstler, bildende (Artikelübersicht)

Share on FacebookTweet about this on TwitterShare on Google+Email this to someone