Kita-Probleme überregional 2024

Nach wie vor finanzielle und personale Probleme in der Bundesrepublik

In ostdeutschen Bundesländern drohen in Kindertagesstätten Entlassungen und Schließungen. Im Westen suchen viele Eltern händeringend Betreuungsplätze für bis zu Sechsjährige. Es ist ein Notstand mit Ansage. Es geschieht in Rostock, Dresden, Weimar, Leipzig und Chemnitz. In vielen ostdeutschen Regionen tauchen immer häufiger Meldungen auf, wonach Kindertagesstätten (Kitas) vor der Schließung stehen oder Erzieherinnen und Erzieher entlassen müssen. Der Grund: Den Einrichtungen fehlt es schlicht an Kindern. In Berlin, Köln, Lübeck, München oder Frankfurt wird ein ganz anderes Bild gezeichnet: Hier fehlen Betreuungsplätze für die bis zu Sechsjährigen oder Kitas drohen Schließungen, weil ihnen Fachkräfte für die Erziehung fehlen.
Der deutsche Kita-Kollaps, das Kita-Dilemma oder das deutsche Kita-Paradox – es gibt inzwischen viele Bezeichnungen für die Misere der vorschulischen Betreuung in der Bundesrepublik. Der seit mittlerweile fast elf Jahren geltende Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz auch für Kinder unter drei Jahren kann für Hunderttausende Kinder nicht erfüllt werden.
Das liegt auch daran, dass die Kommunen bundesweit finanziell überfordert sind. In Mecklenburg-Vorpommern etwa sind die Geburtenzahlen innerhalb der vergangenen sechs Jahre von 13.000 auf 9000 gesunken. Der parteilose Rostocker Sozialsenator Steffen Bockhahn sieht sich angesichts bevorstehender Entlassungen bei einem ersten Träger machtlos. „Wir als Stadt zahlen pro Jahr schon 130 Millionen Euro für die Kitas“, sagte er dem NDR. „Davon sind mehr als 80 Prozent Personalkosten. Mehr geht nicht.“
Der Notstand kommt jedoch keineswegs überraschend, sagt Anette Stein, Direktorin bei der Bertelsmann Stiftung. „Wir weisen seit Jahren im Rahmen unseres Monitorings auf die sich verschärfende Situation und die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West hin.“

Es fehlen in Deutschland 430. 000 Kita-Plätze

Zuletzt beschrieben Stein und ihre Fachkollegen im November 2023 im „Ländermonitoring Frühkindliche Bildungssysteme“ die Lage sehr eindringlich. Danach fehlen in den westdeutschen Bundesländern rund 385 900 Kita-Plätze, um den Betreuungsbedarf der Eltern zu erfüllen. In ostdeutschen Bundesländern gibt es rund 44 700 Plätze zu wenig. Im Osten ist zwar der Anteil der Kinder, die eine Kita besuchen, wesentlich höher als im Westen, so der Befund. Allerdings sind die Personalschlüssel hier deutlich ungünstiger. Während eine vollzeitbeschäftigte Fachkraft in Westdeutschland rechnerisch für 3,4 Kinder in Krippengruppen und für 7,7 Kinder in Kindergartengruppen verantwortlich ist, kommen im Osten 5,4 beziehungsweise 10,5 Kinder auf eine Fachkraft. „Unseren wissenschaftlichen Empfehlungen zufolge müssten die Personalschlüssel bei eins zu drei sowie bei eins zu 7,5 liegen“, sagt Bildungsexpertin Stein. „Daran gemessen, werden fast 90 Prozent der Kita-Kinder in Ostdeutschland in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht kindgerecht sind.“ Allerdings seien es auch im Westen noch rund 62 Prozent.

Mit rückläufigen Geburtenzahlen ist zu rechnen

Die Analyse wird vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) geteilt. „Im Osten sind die Geburtenzahlen seit dem Jahr 2016 stark rückläufig, wohingegen sie im Westen bis 2021 auf hohem Niveau verblieben sind“, begründet IW-Bildungsfachmann Wido Geis-Thöne die Situation. „In der ehemaligen DDR sind in den frühen 1980er-Jahren im Zuge einer geburtenfördernden Politik sehr viele Kinder geboren worden, wohingegen dies im Westen erst in den frühen 1990er-Jahren mit der Elternschaft der Babyboomer der Fall war.“ Für die nächsten Jahre sei also grundsätzlich auch für den Westen mit rückläufigen Geburtenzahlen zu rechnen, so Geis-Thöne. Allerdings gelte das nicht für Metropolen. Hier werde die Zahl der Kinder auch weiterhin steigen. Die Unwucht, die laut Sophie Koch vom Volkssolidarität Bundesverband in den ostdeutschen Ländern seit etwa einem Jahr „geballter, als viele dachten“, durchschlägt, hänge auch mit historischen Gegebenheiten durch eine gut ausgebaute Kita-Landschaft als DDR-Erbe zusammen. „Entscheidender ist jedoch, dass Kitas entsprechend ihrer kindgerechten Bedarfe nicht ausfinanziert sind. Kommunen setzen die Gelder manchmal an der falschen Stelle ein, jedenfalls nicht immer dort, wo sie am dringendsten gebraucht werden“, so die Referentin für Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Die Volkssolidarität ist ein Träger von Kitas ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern. Insgesamt wird ein wesentlicher Teil der etwa 57 000 Kitas und Horte in der Bundesrepublik von freien Trägern wie der Volkssolidarität betrieben. Dafür erhalten sie Geld von den Ländern, die die Kita-Finanzierung regeln – allerdings uneinheitlich. Die einen fördern pro besetzten Kita-Platz, andere zahlen einen Anteil unabhängig von der Auslastung. Manche Kommunen gewähren weitere Zuschüsse.

Es drohen Abwanderungen von Mitarbeiter/innen aus der Kita-Branche

Fachfrauen wie Stein sind überzeugt, dass der Bund hier mehr tun muss – nicht nur mit Ratschlägen, sondern auch finanziell. Die Direktorin der Bertelsmann Stiftung kritisiert, dass in der politischen Betrachtung der Lage bis heute „nur weitgehend die westdeutsche Perspektive“ eingenommen werde. „Das hat mit Sicherheit zu der extremen Schieflage beigetragen.“ Sie warnt davor, dass durch solche Entwicklungen jungen Menschen die Zuversicht genommen werde. „Ich hoffe auf andere Narrative als die wachsende Überzeugung, dass alles den Bach runtergehe“, so Stein. Wenn es nicht gelinge, die Leistungen der Kita-Träger zu refinanzieren und damit Entlassungen von Erziehern abzuwenden, drohten Abwanderungen aus der Branche, die kaum aufzufangen wären.
Doch gerade im ländlichen Raum, wo sich Kitas zum Ort des Zusammenhalts der Gemeinschaft entwickelt hätten, wären ihre Schließungen fatal, so Sophie Koch vom Bundesverband Volkssolidarität. „Wir sollten die Kita im Dorf lassen. Es geht hier um kommunale Strukturen, aber auch familiäre. Zumeist sind beide Eltern berufstätig und pendeln. Was geschieht mit ihnen, was mit ihrem Einkommen und allem, was davon abhängt?“, fragt sie.

Ist die Krise eine Chance zu Verbesserung?

Es gibt Ideen, wie der bedrohlichen Krise im Osten, die manche an die Folgen der Abwanderungswelle in den 1990er-Jahren erinnert, begegnet werden kann. So haben Träger ein Bündnis Zukunft Kita Ost gegründet, um zum „Erhalt lebenswerter Regionen für alle Altersgruppen, auch für junge Leute“ beizutragen, erklärt die Referentin der Volkssolidarität. Koch wie auch Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung schlagen vor, die Krise als Chance zu betrachten. Die Personalschlüssel im Osten müssten an das Westniveau angeglichen werden, meint Stein. „Brandenburg und Sachsen sowie – mit etwas mehr Anstrengung – Sachsen-Anhalt und Thüringen können bis 2030 sogar kindgerechte Personalschlüssel erreichen.“ Für alle Ostbundesländer gelte, dass das aktuell beschäftigte Kita-Personal nicht entlassen werden dürfe und sogar zusätzlich neue Fachkräfte gewonnen werden müssten.

Aus den derzeitigen Kita-Problemen kein „Ost-Thema“ allein machen

Das unterstützt auch IW-Fachmann Geis-Thöne. „Die Fachkraft-Kind-Relationen sind in den Kitas im Osten nahezu flächendeckend so ungünstig, dass eine sinnvolle Bildungsarbeit nicht möglich ist. An sich würde hier wesentlich mehr Personal benötigt, für das es allerdings nur Stellen gäbe, wenn diese auch finanziert würden.“ Volkssolidaritäts-Referentin Koch verweist auf Versuche, zusätzliche Betreuungsangebote im Rahmen der Jugendhilfe zu machen, um Erzieher zu halten. Es gibt auch Vorstellungen für andere Raumnutzungskonzepte der Kita-Gebäude, etwa als Kinder- und Jugendzentrum der jeweiligen Kommune. In Qualifizierungen sieht auch Rostocks Sozialsenator Bockhahn Möglichkeiten, die entstandene Unwucht abzumildern. „Wenn sich Erzieher fortbilden, könnten sie auch in anderen Einrichtungen wie der Jugendhilfe eingesetzt werden.“ Sophie Koch warnt davor, aus den gegenwärtigen Problemen ein reines „Ost-Thema“ zu machen. „Der Platz- und Personalmangel im Westen und die qualitätsbehindernden Betreuungsschlüssel im Osten sind im Prinzip zwei Seiten derselben Medaille.“ Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt daher, dass die ostdeutschen Länder rasch in ihren Kita-Gesetzen die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Kitas mehr Personal beschäftigen können. „Solange die Personalausstattung ungünstiger ist als im Westen, gibt es keine bundesweite Chancengerechtigkeit in der frühkindlichen Bildung“, heißt es im aktuellen Monitoring.

„Handeln ist jetzt gefragt“, appelliert Sophie Koch an die Politik

Dafür sei eine abgestimmte und verbindliche Kooperation von Bund, Ländern, Kommunen und Trägern nötig. Zudem sollte sich der Bund über die Leistungen des Kita-Qualitätsgesetzes hinaus an der Finanzierung der frühkindlichen Bildung verlässlich beteiligen. Staatssekretärin Ekin Deligöz (Grüne) aus dem Bundesfamilienministerium erklärte jüngst dazu, man werde trotz angespannter Haushaltslage bei den Qualitätsanstrengungen keinesfalls nachlassen. Doch Geld allein reiche nicht für gute Qualität in den Kitas – es würden auch ausreichend Fachkräfte gebraucht. „Handeln ist jetzt gefragt“, appelliert Sophie Koch von der Volkssolidarität an die Politik. „Die Kita-Krise“, meint sie, „wirkt sich auf die demografischen und womöglich auch auf die demokratischen Prozesse der Zukunft aus.“

Siehe auch: Kindertagesstätten (Kitas)


Quelle: DZ vom 9. Juni 2024

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