Belgische Besetzung II

Wie Gertrud sich weigerte, vor dem Helm der Belgier zu knicksen

Besetzte Lippebrücke

Belgische Soldaten an de Lippebrücke; Grenzstation zu den noch unbesetzen Gemeinden Holsterhausen und Hervest

Von Walter Biermann – Da Verwaltungsbeamte und Lehrer zum Passieren der Lippebrücke von den belgischen Soldaten kaum einen Passierschein erhielten, um von Holsterhausen nach Dorsten zu gelangen, beauftragte Lehrer Nölle von der Holsterhausener Wilhelmschule die zehnjährige Gertrud Träger damit, in der Buchhandlung König in der Dorstener Lippestraße einen Bestellschein für Bücher abzugeben. Das Schulmädchen machte sich auf den Weg nach Dorsten. Am Gemeindedreieck stieß es auf den ersten belgischen Posten. Auf einem großen Findling hatten die Soldaten einen Militärhelm gelegt. Alle die vorbeikamen, mussten diesen Helm grüßen, wie in Schillers Wilhelm Tell den Geßler-Hut. Die Männer zogen die Hüte vor dem Helm und die Mädchen und Frauen mussten knicksen. „Unerhört“, befand Gertrud und wollte auf keinen Fall vor dem ausländischen Helm in die Knie gehen. Daher wartete sie geduldig auf eine gute Gelegenheit, um an den Wachen unbemerkt vorbeizukommen. Im Pulk mit mehreren anderen Personen schlich sie ohne Knicks am Helm vorbei.

An der Lippebrücke zeigte sie ihren Passierschein, zahlte drei Pfennige Passagegeld und konnte in die Stadt gehen. Nachdem sie den Bücherbestellzettel bei König abgegeben hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Bei den Brückensoldaten gab es keine Probleme, aber am Gemeindedreieck lag immer noch der blöde Helm auf dem Findling vor der Tankstelle Gladen. Wieder wartete das Mädchen auf eine gute Gelegenheit, grußlos vorbeizukommen. Lange musste Gertrud warten, weil weit und breit keine anderen Passanten zu sehen waren. Als dann doch eine Familie mit zwei Kindern kam, versuchte sie unbemerkt am Symbol der belgischen Besatzer vorbeizuhuschen. Aber o Schreck! Einer der Posten hatte es bemerkt und rief: „He alle Partie Stopp!“ Gertrud rannte so schnell sie konnte weg, als ob es um ihr Leben ging. Sie rannte und rannte und bog in die Gartenstraße ein. Hinter ihr kamen acht belgische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten hergelaufen, die riefen: „Stop alle Partie“.

Das Mädchen erreichte das erste Haus, in dem die ihr bekannte Familie Jähn wohnte, denn zu der Familie gehörten drei Jungs in Gertruds Alter. Frau Jähn fragte das um Atem ringende Kind, was denn los sei. „Bitte, lassen sie mich schnell hinein, ich habe keinen Knicks gemacht und nun sind sie hinter mir her!“ Frau Jähn versteckte die Kleine unter Säcken im Keller. Die Soldaten fragten erfolglos nach dem verschwundenen Mädchen. Auch die Baldurstraße wurde abgesucht. Über zwei Stunden blieb Gertrud in ihrem Versteck unter den Säcken. Frau Jähn brachte ihr Milch und eine Schnitte Brot und sagte: „Was machen wir denn nun mit dir?“ Das Mädchen fragte zurück: „Sind die Belgier fort?“ „Ja“, antwortete Frau Jähn.

Erst nach vier Stunden kam Gertrud zu Hause an. Die Eltern hatten „Blut und Wasser“ geschwitzt. „Meine Eltern kannten mich ja ganz genau“, so erinnert sich heute die damals Zehnjährige, „sie machten sich Sorgen, weil sie wussten, dass ich vor denen keinen Knicks mache!“

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