Zeitenwende – Meinung über Ursula von der Leyens Brief an 27 Staatschefs
250.000 Menschen haben in den letzten Tagen etwas gemacht, das vollkommen quer zum Raster der Asylpolitik liegt: Sie sind nach Syrien geflohen. Nach Syrien? Fliehen? Schon der Gedanke löst Verwunderung aus. Doch zur Wahrheit gehört erstens, dass es in Syrien nach einem im Juli ergangenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münsters „keine allgemeine Gefahr“ mehr für die Bevölkerung gibt. Zweitens ist im Libanon, aktuell jedenfalls, die Lage schlicht gefährlicher. Wird dieser weltpolitisch komplizierte Herbst 2024 auch flüchtlingspolitisch zu einem Herbst der Entscheidungen? EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen scheint es darauf anzulegen. Ihr Brief an die 27 Staats- und Regierungschefs ist ein höflicher Tritt vors Schienbein. Zu Recht verweist sie darauf, dass parallel zu den militärischen Konflikten im Nahen Osten auch die Flüchtlingskrise heillos eskalieren könnte, nicht irgendwann, sondern in Kürze.
Ursula von der Leyen hat das Führungsvakuum erspürt, das sich ausgerechnet bei diesem heiklen Thema in Europa breitmacht. Der deutsch-französische Motor funktioniert nicht, und sogar das neuerdings wieder proeuropäisch regierte Polen bockt und zickt. Für Europa liegen jetzt Risiken und Chancen nahe beieinander. Wenn alles schiefgeht, zerbricht die EU unter der Last immer neuer Flüchtlingskrisen. Zu den Gewinnern würde Wladimir Putin gehören. Schon im Jahr 2015 hat der russische Staatschef vorgeführt, wie man durch die unbarmherzige Bombardierung syrischer Wohnviertel eine Flüchtlingskrise auslösen kann, die in der Folge quer durch die EU die Rechtsextremen stärkt.
Aus den anstehenden europäischen Debatten könnte allerdings, wenn sie klug moderiert werden, auch etwas Gutes erwachsen. Die Europäer haben mit ihren Konzepten zur Asylpolitik schon einiges in der Hand, auf dem Papier jedenfalls. Jetzt kommt es darauf an, schneller als geplant aus den neuen Theorien eine neue Praxis werden zu lassen. Die Schaffung von Abschiebezentren („return hubs“) in Drittstaaten wird niemanden begeistern, könnte aber den Beginn einer neuen, realistischeren Flüchtlingspolitik markieren. Wenn die EU zugleich vor Ort hilft, ist das unterm Strich alles andere als zynisch. Jeder Betroffene muss wissen: Auf Dauer kann nur helfen, wer selbst überlebt.
Quelle: Matthias Koch in RN (DZ) vom 16. Oktober 2024