Schmutz und Schund

Schon 1922 wurden in Dorsten Bücher verbrannt - moralische Gründe

Von Wolf Stegemann – Um die öffentliche Unsittlichkeit und den Schmutz und Schund in der Literatur machten sich seit jeher Männer und Frauen, darunter evangelische und katholische Jungfrauen- und Müttervereine, heftige Sorgen. Mit dabei waren auch Dorstener, Holsterhausener und Hervester Vereine. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg, wo die Menschen vor allem in Großstädten wieder frei aufatmeten und einem Leben ohne preußisch-muffige Bandagen dem Wein, Weib und Tanz frönten, regte sich wegen dieser „moralischen Verkommenheit“ Unwille.

Inserat in der Dorstener Volkszeitung

Inserat in der Dorstener Volkszeitung 1920

Doch schon lange vor dem Ersten Weltkrieg, als Preußen auf dem Höhepunkt seiner propagierten Sauberkeit und Redlichkeit stand, wurden Vereine und Verbände gegen die Unsittlichkeit im Deutschen Reich gegründet: 1906 schloss sich der Magistrat der Stadt Dorsten zuerst dem in Köln ansässigen „Verband der Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit“ an, dann 1909 dem „Verein gegen die öffentliche Unsittlichkeit Münster“ und schließlich dem Verein „Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit in den Landgemeinden“. Der Verband kritisierte mit der Frage „Deutsche Volk, wo steuerst Du hin?“ den Umstand, dass es zwischen 1903 und 1905 immer mehr geschlechtkranke Rekruten in den Kasernen und bei Studenten in den Universitätsstädten gab. In Frankfurt verdoppelte sich von 1904 auf 1905 die Zahl der registrierten Prostituierten auf 2.898, die Zahl der Geburten sank in Preußen in der Zeit von 1901 bis 1904 um 36.657, in Köln gab es 1909 durchschnittlich monatlich 152 uneheliche Geburten, die Zahl der Ehescheidungen betrug in Preußen 1905 rund 7.000; sie stiegen kontinuierlich bis 1909 auf 9.000 an. Doch diese Zahlen bedeuteten für den „Verband der Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit“ nichts „zu dem berechnenden Verlust an moralischer und physischer Kraft, an Werten höherer Ordnung“. Der Verband bezifferte den moralischen Verlust in Geldwert auf 90 Millionen Mark durch venerische Erkrankungen und auf 50 Millionen Mark durch Schundliteratur.

Dorstener Männer an der Front: „Kampf für das Haus, Weib und Kind“

Rundschreiben 2. Seite

Rundschreiben 2. Seite

Dorsten, Holsterhausen und Hervest machten mit, denn, so Dorstens Bürgermeister Bernhard Lappe 1910 mit Unterstützung des Zentrums: „Die öffentliche Unsittlichkeit untergräbt die Wurzeln unserer Kraft und Größe.“ Allein der Münstersche Verband hatte rund 3.500 Mitglieder. Präsident des Vereins war der ehemalige Regierungspräsident, Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und Mitglied des Hauses der Abgeordneten, Alfred von Gescher.

Im Februar 1912 trafen sich ehrenwerte Herren im Dorstener Gesellenhaus, um den „Männerverein zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit“ zu gründen. Zum Kommen aufgerufen waren „alle auf Zucht und Sitte haltenden Männer“. Frauen wollte man nicht dabei haben, das wäre unsittlich, zumindest unschicklich gewesen. Dennoch hatte man auch Frauen mit einbezogen, indem die Männer an die Frauen appellierten:

„Sorgt dafür, dass Eure Männer sich sammeln, organisieren, sich uns anschließen zum Kampfe für die höchsten Güter, zum Kampfe für Haus und Herd, für Weib und Kind! – Lasst keine Ruhe, bis Eure Männer unserem Verbande beitreten, unser Verbandsorgan lesen, unsere Bestrebungen immer und überall unterstützen!“

Gymnasialdirektor Dr. Wiedenhöfer: Unsittlichkeit „nistet“ sich ein

Die Männer kamen. Vorsitzender wurde der rechtssinnige Gymnasialdirektor Dr. Josef Wiedenhöfer (Petrinum). Dieser stellte fest, dass Dorsten immer mehr auf verschiedenen Wegen „in die Unsittlichkeit einbezogen“ werde, die sich hier „einniste“. Dem Vorsitzenden stand ein 18-köpfiger Vorstand zur Seite, dem u. a. angehörten: Rechtsanwalt Beckmann, Oberlehrer Dr. Brüsker, Sanitätsrat Dr. Cordes, evang. Pfarrer Crüsemann, Pater Guardian der Franziskaner, Seminardirektor Holz, Polizeisekretär Leicht, Ehrendomherr, Dechant und Pfarrer von St. Agatha, Lorenz, sowie Postdirektor Zacher.

Der Dorstener Verbandsableger beschränkte sich keinesfalls nur auf Biertischreden im Gesellenhaus. Der Verein hatte Arbeitsgruppen gebildet, die sich in die „Niederungen der Unsittlichkeit“ begaben. In einem Vereinsbericht heißt es: „Der Verein arbeitet im Stillen, aber trotzdem ist er, wie verschiedene Vorfälle dartaten, auch hier in Dorsten keinesfalls überflüssig.“ Was sie allerdings an keinesfalls Überflüssigem taten, darüber schweigen die Protokolle. Das Niederschreiben von Unsittlichem wäre wohl selbst als unsittlich angesehen worden. Der Dorstener Verein hatte 1912 über 113 Mitglieder und ein lebenslängliches Mitglied, was immer auch darunter zu verstehen ist. Ende 1912 hatten die Sittlichkeitswächter 39,20 Mark in der Vereinskasse. Ob es die sittlichen Männer schafften, aus Dorsten die so genannte Unsittlichkeit zu verbannen, geht aus den spärlichen Aufzeichnungen nicht hervor. Auf dem 8. Rheinischen Gemeindetag in Köln wurde 1912 eine Unterabteilung gegründet, die die Aufgabe hatte, die „öffentliche Unsittlichkeit in den Landgemeinden“ zu bekämpfen. Der Bürgermeister der Stadt Dorsten verteilte über das Amt Altschermbeck-Lembeck in Wulfen einen Stapel von Flugblättern, mit denen angespornt wurde, der Unsittlichkeit in den Dörfern Herr zu werden.

Kirchliche Frauenvereine gingen auf die Barrikaden

Damals noch Schmutz und Schund

Damals noch Schmutz und Schund

Das Ende des Ersten Weltkrieg mit dem Untergang der bis dahin als heilig gehalten Grundsätze von Sittlichkeit, Moral, Recht und Ordnung brachte einen erneuten Aufschwung an geistiger Befreiung von enger moralischer Begrifflichkeit. Als 1921 die Aufführung des Strindberg-Dramas „Der Weibsteufel“ (1915 Burgtheater Wien) in der „Dorstener Zeitung“ angekündigt wurde, ging die kirchliche Moral auf die Barrikaden. Es wurden Anzeigen veröffentlicht, in denen sich katholische wie evangelische Frauenvereine dagegen wehrten, dass die „reine Weiblichkeit“ durch dieses Drama „öffentlich geschändet“ werde. Gemeinsam stritten der katholische Mütterverein Dorsten, der katholische und evangelische Jungfrauenverein Dorsten, die evangelische Frauenhilfe in Holsterhausen mit dem Hervest-Dorstener katholischen Mütterverein und der katholischen Jungfrauen-Kongregation gegen den „Weibsteufel“ und die damit verbundene Unmoral.

Um was ging es in dem deftigen Volksdrama „Weibsteufel“ in den Tiroler Bergen? Eine Frau, die ihre Reize einzusetzen wusste, hatte einen Ehemann – und einen Liebhaber. Dieser brachte den Ehemann um und musste außer Landes fliehen. Die Witwe erbte das „große Haus am Markt“, in dem sie nun Männer empfangen konnte, die sie sich selber aussuchte. Wer Strindberg kennt, der weiß, dass die Dynamik des Begehrens oft Purzelbäume schlägt. Die Anzeigenkampagne und der Boykott der Frauen hatten in Dorsten letztlich keinen Erfolg. Die Dorstener strömten in den Film.

Bücherverbrennung in Dorsten schon 1922

Ein Jahr später riefen Stadt und Schulen am 13. Oktober 1922 zu einer Versammlung in die Wirtschaft „Eintracht“ auf. Angesprochen waren Lehrer und Elternräte in Dorsten, um zu beraten, wie gegen „Schmutz- und Schundliteratur“ vorgegangen werden kann. Die Versammelten entwickelten einen „Arbeitsplan“. 14 Tage später sollte die gesammelte „schlechte Literatur“ nach feierlichem Umzug mit Musikbegleitung durch die Stadt auf dem Sportplatz verbrannt werden. Initiatoren dieser Bücherverbrennung waren Bürgermeister Lappe, der Magistrat, Schulrat Schmeck, Lehrer-Seminardirektor Holz, Gymnasialdirektor Dr. Wiedenhöfer, Mater Petra Brüning vom Ursulinen-Lyzeum, Rektor Maybaum und Hauptlehrer Kirchhoff.

Fortsetzung im Nationalsozialismus (Universität Karlsruhe)

Fortsetzung im Nationalsozialismus (Universität Karlsruhe)

1934 riefen die Nationalsozialisten auf, wieder einmal Bücher von Autoren zu verbrennen, die sie als „Schmutz und Schund“ ansahen. Und wieder waren vornehmlich Lehrer daran beteiligt. – In den Nachkriegsjahren bis in die 1960er-Jahre ging es mit derselben Wortwahl “Kampf gegen Schmutz udn Schund!” offiziell weiter. Gegen Filme wurde protestiert und ein Bibliotheksleiter sortierte das Buch “Das Bikini-Atoll” aus.

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