Ab 16. September kontrolliert die Bundespolizei verschärft an allen Grenzen
Erfreut ist von den anderen Staaten Europas über Deutschlands neue Grenzkontrollen kaum jemand. Dorsten liegt nur einige Kilometer weit von der niederländischen und belgischen Grenze entfernt. – Die Reisefreiheit in Europa, die als eine der wichtigsten Errungenschaften der EU gilt, wird erheblich eingeschränkt. Ab 16. September wurden für zunächst sechs Monate die Grenzkontrollen auf Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Dänemark ausgeweitet. Zu Österreich gibt es die laut Gutachten rechtswidrigen Kontrollen bereits seit 2015, zu Polen, Schweiz und Tschechien schon seit dem Sommer 2024.
Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis kritisierte die Bundesregierung scharf für die Wiedereinführung der Grenzkontrollen. Es sei nicht richtig, Ad-hoc-Ausnahmen von Schengen und Grenzkontrollen zu beschließen, sagte er am Rande eines Treffens mit seinem österreichischen Amtskollegen Karl Nehammer in Wien. Beide forderten mehr Unterstützung für die EU-Staaten an den EU-Außengrenzen, damit innerhalb der EU Kontrollen überflüssig werden. Zuvor hatte die österreichische Regierung bereits deutlich gemacht, dass sie bei deutschen Grenzkontrollen zurückgewiesene Asylsuchende nicht aufnehmen werde. Deutschland könne den Druck nicht einfach „auf Österreich abladen“, sagte Nehammer.
Auch das EU-Parlament kritisiert Deutschland
Auch im EU-Parlament ist die Kritik an der deutschen Entscheidung groß. Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke macht klar, dass europäische Herausforderungen auch europäische Lösungen brauchen. „Die errungenen Freiheiten des Schengenraums bieten uns die notwendigen Mittel, uns diesen Herausforderungen gemeinsam und rechtsstaatlich zu stellen“, sagte sie. „Sie zum Nachteil der Bürger, der Wirtschaft und des europäischen Zusammenhalts zu kappen, kann nicht der deutsche Weg sein.“
Die deutschen Kontrollen betreffen neun Nachbarländer – die darüber alles andere als erfreut sind. In Luxemburg und Dänemark fürchten viele nun lange Staus, wie etwa während der Corona-Pandemie. Scharfe Kritik äußerte auch Polens Premierminister Donald Tusk an den deutschen Grenzkontrollen und der Zurückweisung Schutzsuchender an der Grenze. Er will sich mit den anderen Nachbarländern Deutschlands zusammentun und auf EU-Ebene intervenieren. Auf die Niederlande kann er jedoch nicht setzen. Asylministerin Marjolein Faber von Geert Wilders‘ rechtspopulistischer Partei PVV lobte den deutschen Vorstoß. Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orban sieht die Berliner Regierung offenbar auf seinem Kurs angekommen. „Scholz, welcome to the club!“, schrieb er bei X.
540 Personen zurückgewiesen, 23 wollten erneut einreisen
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte angeordnet, dass es ab dem 16. September 2024 an allen Landgrenzen stationäre Kontrollen geben soll. Begründet hat sie die zusätzlichen Kontrollen, die Frankreich, Dänemark, Belgien, die Niederlande und Luxemburg betreffen, mit der irregulären Migration. An den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz gibt es solche Kontrollen seit Mitte Oktober 2023. An der deutsch-österreichischen Landgrenze wurden sie im Herbst 2015 eingeführt. Grenzkontrollen sind im Schengen-Raum eigentlich nicht vorgesehen.
Während der ersten fünf Tage der im September 2024 neu angesetzten Grenzkontrollen an allen deutschen Landgrenzen sind bei 898 unerlaubten Einreisen 540 Personen von der Bundespolizei an den Grenzen zurückgewiesen worden. Das berichtete die „Bild am Sonntag“. Insgesamt 23 dieser Zurückweisungen betrafen demnach Menschen, die zuvor schon einmal aus Deutschland abgeschoben worden waren. Bundespolizeipräsident Dieter Romann bestätigte der Zeitung die Zahlen. Er sagte: „Dank der guten Arbeit der vielen Beamtinnen und Beamten wirken unsere Maßnahmen an den Grenzen.“ Bei den Grenzkontrollen wurden nach Informationen der Zeitung innerhalb von fünf Tagen zehn mutmaßliche Schleuser festgenommen und 114 offene Haftbefehle vollstreckt.
Die Bundespolizei in Hannover teilte mit, die stationären Kontrollen an der Grenze zwischen den Niederlanden und Niedersachsen seien ohne größere Probleme angelaufen. Für Aufsehen sorgten am 16. September 2024 drei Drogenschmuggler, die sich an der deutsch-niederländischen Grenze der Kontrolle entziehen wollten. Beamte stoppten sie nach einer kurzen Flucht über die Autobahn. Sie hatten Haschisch transportiert.
Temporäre Grenzkontrollen schaden auch der deutschen Wirtschaft
Die temporären Kontrollen an deutschen Grenzen werden die Wirtschaft nach einer Analyse des Kreditversicherers Allianz Trade voraussichtlich weiter schwächen. „Die zusätzlichen Wartezeiten an den Grenzen dürfte die Transport- und Warenkosten für Importe um rund 1,7 Prozent erhöhen und damit sowohl das Handelsvolumen insgesamt als auch die Wettbewerbsfähigkeit verringern, die bei deutschen Herstellern aktuell bereits auf einem niedrigen Niveau liegt“, sagte Senior Volkswirtin Jasmin Gröschl. So zögen die Kontrollen eine Kettenreaktion nach sich: „Der Handel könnte bis zu 1,1 Milliarden Euro pro Jahr verlieren.“ Das wiederum könnte Rezessionsrisiken verstärken und zu Einbußen beim Bruttoinlandsprodukt von bis zu 11,5 Milliarden Euro führen.
Unter normalen Umständen dauert ein typischer Grenzübertritt innerhalb des Schengenraums nach Angaben von Allianz Trade durchschnittlich 3,34 Minuten. Mit den Kontrollen sei davon auszugehen, dass die Situation künftig ähnlich wie an den Schengen-Außengrenzen sein werde, wo ein Grenzübertritt mit stichprobenartigen Kontrollen die Reisezeit auf einer Transitroute um 20 Minuten verlängern könne.
Grenzkontrollen stören die Lieferketten
„Durch die Verzögerungen an den Grenzen rechnen wir nicht nur mit steigenden Kosten, sondern auch mit Lieferkettenstörungen sowie mit einem Rückgang der Importe nach Deutschland um möglicherweise rund acht Prozent“, sagte Gröschl. Da etwa zwei Drittel der deutschen Importe über die Landgrenzen erfolgten, bedeute dies einen jährlichen Rückgang von bis zu 1,1 Milliarden Euro. „Mit Wegfall dieser Importe können teilweise weniger Endprodukte hergestellt werden oder die Unternehmen müssen mehr und teure Lagerhaltung betreiben, weil die Just-in-time-Produktion der Industrie eingeschränkt ist.“ Nach Branchen aufgeteilt dürfte der Lebensmittelbereich der Analyse zufolge mit einem Anstieg der Handelskosten von 2,6 Prozent und mit einem Importverlust von 62 Millionen Euro konfrontiert sein. Bei den Handelsdienstleistungen seien es 2,4 Prozent und Importverluste von 55 Millionen Euro sowie bei den Transportdienstleistungen ein Kostenplus von 1,8 Prozent und Importverluste von 51 Millionen Euro.
Beim Maschinenbau sowie in der Chemie- und Pharmaindustrie sei der Kostenanstieg mit 1,2 und 2,3 Prozent zwar geringer, aber durch die hohen Handelsvolumina ergebe sich dort ein erheblicher Rückgang der Importe um 147 Millionen beziehungsweise 142,1 Millionen Euro. Sehr stark betroffen sei auch der Bildungs- und Freizeitsektor. Durch die Einschränkungen im Personenverkehr mit zu erwartenden Staus würden weniger Freizeitdienstleistungen wahrgenommen, die mit einem Grenzübertritt verbunden sind, etwa Tagesausflüge oder Wochenendtrips (Quelle: Markus Klemm in RN (DZ) vom 21. September 2024).