Armut in Dorsten

Zwei Caritas-Mitarbeiterinnen: Das Schlimmste ist nicht das fehlende Geld

Die „Dorstener Zeitung“ brachte Ende 2023 ein Interview mit Andrea Schlüter und Sabine Cremer, beide Caritas-Mitarbeiterinnen, über ihre Sicht zum Thema Armut – hier wiedergegeben: In einigen Dorstener Stadtteilen hat sich Armut festgesetzt. Laut Andrea Schlüter und Sabine Cremer ist das vorrangige Problem nicht das fehlende Geld. Die Prozentzahl an Menschen, die in Dorsten in Armut leben, ist in den letzten zehn Jahren nahezu stabil. Mit 11 Prozent liegt sie über dem Bundesschnitt von 8.7 Prozent, wie eine neue Studie zeigt. Dabei steht allerdings die Frage im Raum, wer überhaupt arm ist. „Viele denken, dass Armut ist, wenn man Hunger leidet und kein Dach über dem Kopf hat“, erklärt Andrea Schlüter von der rechtlichen Betreuung der Caritas Dorsten. Damit sind in Deutschland jedoch Menschen gemeint, die nicht unbedingt hungern, aber am Existenzminimum leben und Sozialleistungen bekommen.

Nicht selten sind psychische Erkrankungen die Folge von Armut

Viele Menschen erreicht die Caritas mittlerweile nicht mehr. Das Schamgefühl sei oft zu groß und die Bedürftigen melden sich nicht bei ihnen. Der Teufelskreis der Armut ziehe sich ins Endlose. Damit einher geht ein viel größeres Problem: die Isolation. Sobald Menschen sich „außen vor“ fühlen, kapseln sie sich ab. Gerade dann sei es schwer, einen Ausweg zu finden, der oft nur durch Unterstützung möglich sei. „Man lebt sehr zurückgezogen“, sagt Andra Schlüter. Nicht selten seien psychische Erkrankungen die Folge. Daher haben sie in den vergangenen Jahren ihr Vorgehen geändert. Sie gehen aktiv in die Schulen und Kindergärten und sprechen mit Lehrkräften und Schulsozialarbeitern. „Da sind die Familien. Da fällt es einfach auf“, so Sabine Cremer von der Gemeindecaritas. Wenn ein Kind ohne Essen zur Schule gehe oder im Winter eine dünne Sommerjacke trage, seien das Anzeichen, die von dem Wohlfahrtsverband ernstgenommen werden.
Oft sind es Dinge, die Menschen in Armut sich nicht leisten können, die für andere ganz normal sind. Beispielhaft zeigt das die Adventslichter-Aktion der Wohlfahrtverbände in Dorsten, bei der für bedürftige Dorstener gesammelt wird. Dorstener haben sich dort zum Beispiel einen Friseur-Besuch oder eine Hose, die sie sich selbst aussuchen und noch niemand vorher getragen hat, gewünscht. Die Gemeindecaritas kann feststellen, dass mehr Familien Unterstützung benötigen als früher. „Es gibt in Dorsten schon soziale Brennpunkte“, sagen die Expertinnen. Dort, wo es viele Sozialwohnungen gibt, sei die Armut höher. Und das nicht erst seit gestern.
Wie eine Studie vom Soziologen Marcel Helbig am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung zeigt, sind besonders die Stadtteile Hervest und Wulfen-Barkenberg betroffen. Den Eindruck teilen die beiden Expertinnen der Caritas. „Eine Verbesserung sehe ich in den nächsten Jahren nicht. Kann es überhaupt noch schlimmer werden?“, meint Andrea Schlüter bei der Frage um die Zukunft der Dorstener. Sie wünscht sich, dass es möglich wäre, die Isolation zu beenden. „Nur dann kann man die Menschen sehen und ihnen helfen“, sagt sie.

Altersarmut ist schlimm und im Trend oft weiblich

Besonders schlimm sei es bei der Armut im Alter. „Bei der Altersarmut ist der Trend weiblich“, sagt Andrea Schlüter. Viele Frauen, die nicht voll berufstätig waren und nur eine kleine Witwen-Rente bekommen, trauen sich nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es sei auch die Generation, die noch mehr als andere von Scham betroffen sei. Viele lebten alleine und hätten keinen gesellschaftlichen Anschluss. Die Leute aus der Isolation zu locken, verändere womöglich nicht die finanzielle Situation, aber durchaus die gesellschaftliche, meint Andrea Schlüter. Die Menschen könnten wieder Anschluss finden und vereinsamten nicht. Versteckte Armut ist daher auch in Dorsten ein Problem und die Zahl schätzungsweise hoch. Wenn Organisationen die Menschen nicht erreichen können, die es am ehesten brauchen, ist der Ausweg häufig schwierig. „Es ist utopisch zu glauben, dass die Menschen, die Hilfe benötigen, auf einen zugehen. Ich würde mir wünschen, dass jeder links und rechts schaut und seinen Mitmenschen hilft“, so Andrea Schlüter.


Quelle: DZ vom 20. Dez. 2023

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